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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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beide lachen. Langsam kommt Mattis’ Mutter den Weg hoch. Sie schaut ihren Sohn an und schüttelt den Kopf. »Felicia ist viel zu schwer für dich.« Die junge Frau heißt Hanna und wohnt ein paar Häuser weiter. Lisa und Felicia gehen mit Mattis in den Kindergarten. Leonie freut sich auf ein Erwachsenengespräch, besonders mit jemandem aus der Nachbarschaft, in der sie sich immer noch fremd fühlt. Die morgendliche Hetzjagd vom Kindergarten in die Bank ist keine geeignete Voraussetzung, um Wurzeln zu schlagen, die Nachbarn mit Namen zu kennen und von der Bäckereiverkäuferin und dem Postboten vertraulich begrüßt zu werden. Leonie träumt von solchen Strukturen, und wenn sie ehrlich ist, hat sie dabei einen in Pastelltönen gezeichneten Werbetrailer vor Augen, der sich aus Fernsehserien und der abnormalen Heiterkeit von Lisas Bilderbüchern zusammensetzt.
    Tatsächlich ist es ihr noch nicht einmal gelungen, in Nâzıms Laden eine bekannte Persönlichkeit zu werden. Daß das kleine Geschäft an der Ecke das Herz des Viertels sein mußte, war Leonie schon bei ihrem ersten Einkauf dort klargeworden. Wie die meisten Entdeckungen in ihrer neuen Umgebung hatten Simon und sie auch diese während der Einzugswoche im August gemacht. 24 Stunden täglich zu zweit, Adam und Eva in Shorts und Sporthemden in einem staubigen, heißen Garten aus Lampen, quer stehenden Möbeln und zusammengeknülltem Zeitungspapier, eingefriedet von einer Mauer vollgestopfter Pappkartons. »Die Kaffeemaschine muß hier irgendwo drin sein. Es war auch noch eine halbe Tüte Hochland dabei«, meinte Simon und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Seine Hand hinterließ eine schwarze Schliere über der Stirn. Leonie, erschöpft und ärgerlichüber ihre unsystematische Packerei, war gebannt von der Weiße seiner Haut, von der sich Schmutzfleck, Bartstoppeln und das Blau seiner Augen stark und klar abhoben. Sie beugte sich vor und kostete die verschwitzte Kühle mit der Zunge. »Jetzt mußt du mich zum Kaffee einladen. Ich rühre keinen Finger mehr, bevor ich nicht einen gehabt habe. Unten ist doch so ein kleiner Laden. Vielleicht gibt es dort Latte in Dosen. Oder Cola.«
    Daß Nâzım alles andere war als der übliche türkische Lebensmittelhändler, merkten sie sofort. Eine cremeweiß und grün gestreifte Markise warf Schatten auf den glühenden Gehsteig. Das Schaufenster, sauber geputzt und ohne jede Beschriftung, war leer bis auf einen Busch Sonnenblumen und Zinnien in einer schlichten Kugelvase. Im Laden war es kühl. Der Blumenduft mischte sich mit dem der Kräutertöpfe, Erdbeeren und des frisch gekochten Espresso. Leonie staunte über das appetitliche Arrangement und über die Preise. »Mindestens Hauptbahnhof, eher Flughafen«, flüsterte sie Simon zu. Und dann kam Nâzım selbst. Zu einem blütenweißen Polohemd trug er helle Bermudas, geflochtene Ledersandalen und eine Baskenmütze, kostümiert wie ein Franzose aus einem Chanson von Trenet oder Brel, um dem Klischee des Gemüsetürken zu entkommen. Neben den vielen Frauen, die ihn mit Vornamen begrüßten, tauchte auch ein Geschwisterpaar im Kindergartenalter auf: zwei blonde Jungen in Kittelhemden und Sandalen, die ihre Wünsche in melodischem Schwäbisch – »ein Bund Peterling, gelbe Rüben« – von einem gemalten Zettel ablasen. Leonie und Simon tranken Espresso an dem einzigen Stehtisch vor dem Schaufenster und ließen sich noch Obst, Ciabatta und Salami einpacken. Leonie winkte, denn Nâzım hinter der Kasse tat das auch. Gerne wollte sie mit ihm Wangenküßchen und Neuigkeiten über die Leute im Viertel austauschen. Leider richtet Nâzım seine Öffnungszeiten nicht nach Leonies Bürostunden. Das Frühstücksobst für die Mädchen kauftsie weiterhin im Supermarkt. Lange bevor er seine Markise herauskurbelt, braust sie schon an seinem Geschäft vorbei.
    Auch von der Kontaktbörse Kindergarten hat sie sich mehr versprochen. Wenn sie die anderen Mütter im Hof des Kindergartens zusammenstehen sieht und Gesprächsfetzen auffängt, die von Hilfeleistungen aller Art, gemeinsam verbrachten Nachmittagen und sogar Wochenenden zeugen, wird sie neidisch. Sie hat keine Zeit, bleibt die Neue, die Eilige, die sich mit Nadelstreifenkostüm und Make-up vorkommt wie ein Raubtier, das eine Kolonie kuscheliger Pinguine umkreist. So gerne sie sie würgen und rupfen möchte, diese Jeans- und Pulli-Trägerinnen, deren Watschelfüße Turnschuhsohlen sind und aus deren Schnäbeln es über Biogemüse

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