Kürzere Tage
den Boden. Der Junge rennt ins Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Felicia schaut ihm enttäuscht hinterher. Hanna säubert die Zähne mit einem Papiertaschentuch. »Er wird sich verschlucken, der Speichel kann nicht richtig abfließen, und er ist doch Asthmatiker. Ich hätte gar nicht erlauben sollen, daß er die Dinger überhaupt mitnimmt.« Hanna zieht ihren Poncho enger um sich. »Er übertreibt schon wieder. Letzte Woche ist er so krank gewesen. Wieder diese Durchfälle, zweimal pro Stunde. Wir waren auch im Olgäle, aber die finden einfach nichts. Ich glaube, er ist auf irgendwas allergisch, was sie noch nicht rausgekriegt haben.«
Das Gespräch hat sein Zentrum gefunden. Hanna erzählt vonMattis’ ersten Lebenswochen, wie er die Brust ablehnte und auch Flaschenmilch ständig erbrach, bis endlich eine Proteinintoleranz festgestellt wurde, von venöser Ernährung, entzündeten Kathetereinstichstellen und der nicht abreißenden Kette von Infekten. Leonie beschränkt sich auf die Rolle der nickenden Zuhörerin.
Ihre Mädchen sind selten krank. Sie schreibt das dem Cocktail aus ihrem Sportler- und Simons Proletenblut zu. Aber sie weiß auch, wie diese Kinder unter leichtem Fieber oder Ohrenschmerzen leiden können. Um so mehr bewundert sie Mattis, seine zähe Energie, mit der er trotz aller Unterbrechungen wieder in die Kindergruppe zurückkehrt und dort agiert, als hätte er die versäumten Lebensstunden doppelt aufzuholen. Seine Wildheit ist von anderer Art als Lisas und Felicias Energieanfälle. Die Schwestern staunen über seine Furchtlosigkeit, berichten auch oft von seinen Streichen und Heldentaten. Mal klettert er im Hof in einen Baum und springt dann an der aufgescheuchten Janet vorbei in die Sandkiste, mal konstruiert er eine Stuhlpyramide, auf deren wackliger Spitze er erstaunlich lange ausharrt. Regelmäßig stürzt er sich in Gefechte mit wesentlich älteren Kindern. Leonie hat ihn noch nie weinen sehen. Er scheint diese Herausforderungen zu suchen und zu genießen. Zum Gespräch kann sie nicht viel beitragen. »Gut, daß deine Mutter so zuverlässig ist.«
Dann fragt sie nach Mattis’ Vater, aus reiner, empathiefreier Neugier. Sie kann sich Hanna überhaupt nicht mit einem Mann vorstellen. Vermutlich ein anderer Baumwollbeutelträger, Bekanntschaft aus dem Bioladen. Oder ein Patient aus der Arztpraxis. Hanna reagiert nicht. Sie schüttelt nur den Kopf. »Ja, Mutter hilft schon. Aber er braucht mich doch am meisten.«
Leonie kennt Mattis’ Oma flüchtig vom Abholen in St. Anton, eine korpulente Frau mit grauer Kurzhaarfrisur, roten Äderchen in den vollen Backen und einer Strickjacke über dem ausladenden Stretchjeans-Hintern. Wenn Leonie mit ihrer Mutter in dieStadt geht, hat sie das Gefühl, daß sich nach dieser schlanken, gebräunten Person mit hohen Absätzen und figurbetonten Kleidern mehr Männer umdrehen als nach ihr, die blaß und angestrengt nebenhertappt und sich morgens unter der Neonleuchte des Badezimmerspiegels die ersten weißen Haare aus dem karottenroten Scheitel zieht. Leonies Eltern verbringen viel Zeit auf Reisen und finden ihre Enkeltöchter zwar ganz entzückend, sind aber nur selten bereit, Zeit mit ihnen zu verbringen. Leonie denkt ungern an die Telefonate mit ihrer Mutter, die meist aus Südeuropa kommen und durch ihre Ausführlichkeit eine Anwesenheit vorgaukeln wollen, die im Jahr höchstens zweimal erreicht wird. Ihre Eltern waren immer mehr ein Liebespaar als die Erzeuger und Erzieher jener kleinen rothaarigen Göre, der sie bei jeder Gelegenheit zu entkommen suchten, kuschelnd, knutschend und Händchen haltend.
Felicia hängt schwer an Leonie. Es wird schnell dunkler, und im Haus rumort es. Die Tür geht auf, und die Kinderhorde stürmt auf das Gelände. »Wer ein Gespenst gefunden hat, liest die Nummer. Dann stellt ihr euch vor dem Geräteschuppen auf, da ist die Geisterbahn. Die Reihenfolge geht nach den Zahlen auf den Gespenstern! Wie Anstehen geht, wißt ihr ja?« ruft Bernd. Felicia windet sich aus Leonies Armen. Mattis und Lisa tauchen auf. »Ich hab mich nicht gefürchtet, Mama!« ruft Lisa. Mattis hat schon mit den Älteren den Hügel erklommen, streift durchs Gestrüpp, die Augen zu Boden gerichtet, und hält nach kurzer Zeit zwei kleine grüne Papiergespenster in den Händen, von denen er eines großzügig Lisa überläßt. Dann rennt er mit dem Pulk davon. Seine Mutter beachtet er nicht. »Mama, stellst du dich mit mir an?« fragt Lisa. Der
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