Kürzere Tage
deutsche Kinder. Bei einem ihrer seltenenGänge in die Innenstadt hatten Uli und Kilian vor dem ›Brezelkörble‹ auf der oberen Königstraße zwei Türkinnen mit langen Mänteln und Kopftüchern gesehen und sich geweigert weiterzugehen. »Mama, da sind Hexen!« Die beiden Frauen verschwanden in einem Kaufhaus, ohne etwas zu bemerken.
»Mama, schau mal, da! Was wollen die?« Kilian zieht an ihrem Ärmel, und Judith dreht sich um. Sie schaut an dem prächtigen Lilienstrauß vorbei durch das Schaufenster, das dumpf nachdröhnt von den Schlägen draußen. Sie fährt zusammen, so nah sind die drei Gesichter davor. Dunstige Atemkreise aus grinsenden Mündern, dunkle Mützen, gedämpfte Rufe: »Murat, was geht? Bring was zu trinken raus, Alter! Bring die Kasse mit, die Kasse!« Einer klebt noch an der Scheibe, die anderen stehen weiter hinten auf dem Gehweg. Judith kann jede Pore erkennen, zarte, pickelfreie Haut, winterblaß und klar. Der Junge überrascht mit einer schmalen geraden Nase, eisblauen Augen, einem verächtlichen vollen Mund. Das dunkelblonde Haar ist kinnlang, es quillt unter einer Mütze hervor. Jetzt bemerkt er Judith und grinst. Die Handknöchel schlagen dazu im Takt gegen das Glas. »Murat, bring die Tussi mit raus, die ist scharf!« Die beiden anderen Jungen, sicher auch Türken, alle sind sie nicht älter als 14 Jahre, lachen nicht mehr. Sie gestikulieren im Hintergrund. Einer bemerkt Kilian, der sich, Judiths Ärmel fest im Griff, ein wenig vorgepirscht hat, und tippt dem Schönen auf die Schulter. »Komm wieder runter, Marco, da ist ein Kleiner! Und Murats Onkel, Mann!« Marco, der Name klingt nach Pauschalreisen und Superstar-Sehnsüchten, tritt in die Reihe seiner Kumpane zurück, macht eine verächtliche Geste. Judith starrt auf die mit einem Farbspray verklebten Haare, die schwarzen Streifen auf ihren Stirnen und Backen. Sie hampeln vor der Scheibe herum, die langen schmalen Glieder bewegen sich unaufhörlich, tänzeln nach rechts, nach links, vollführen Drehungen und kleinereRempeleien, fast so, als ob in ihren Köpfen ein dumpfer Beat dröhnt, der sie zum Tanzen, zum Zappeln zwingt. Mit Frühstücksfernsehen großgezogen, denkt Judith noch. Dann sieht sie, wie Kilian den angenagten Apfel achtlos fallen läßt und von ihr weg direkt an die Scheibe tritt. Marco reißt einem der jungen Türken eine schmutzfarbene schlaffe Hülle aus den Händen und stülpt sie ihm über den Kopf. Aus dem Kürbisgesicht starren riesige Augen, dazu hat die vertraute längsgestreifte Frucht einen wütend gebleckten Zahnverhau, alles aus chinesischem Plastik. Auch wenn der andere die Maske sofort wieder abreißt und Marco ins Gesicht pfeffert, »Hörstu auf mit dem Scheiß, Mann«, flüchtet sich Kilian mit einem leisen Schreckensschrei in Judiths Arme und fängt an zu wimmern. Sie hebt Kilian hoch, drückt ihr Gesicht an seinen warmen Hals, murmelt ›heile heile Segen‹, obwohl kein Blut fließt. Am liebsten würde sie mit der Faust die Scheibe einschlagen, einen Splitterhagel gegen die Angreifer senden. »Hey Kleiner, das ist bloß der Hassan da drunter, das ist nur Spaß, verstehsch? Halloween halt.« Murat schleicht sich sichtlich verlegen von der Seite an und wedelt mit einer Banane. Kilians Gesicht bleibt in Judiths Jacke vergraben. Nâzım öffnet die Ladentür: »Murat hat noch zu tun! Macht euren Blödsinn woanders, hier wird gearbeitet. Haut ab!« Der Schwall auf türkisch, der dann folgt, läßt die beiden Geschminkten sichtlich in sich zusammenfallen. Nâzım schließt die Tür mit Nachdruck, das Glockenspiel begleitet ihn mit hektischem Gebimmel. Judith putzt Kilian die Nase, zeigt ihm die eingestickte Rose auf dem Taschentuch, er lächelt schon wieder. Durch das Glas fängt Judith einen letzten Blick von Marco auf. Der geht langsam, keineswegs verängstigt, rückt seine Mütze zurecht, schüttelt die Hosenbeine aus. Seine Zunge fährt mit Stoßbewegungen in die beflaumte Wange, er grinst, ruft über die Schulter: »In einer Stunde, da machen wir richtig Party, Alter!« Murat steht mit schafsmäßigemGesichtsausdruck hinter der Theke. Nâzım reicht Judith das Suppengrün, das er in eine braune Papiertüte gewickelt hat. »Tut mir sehr leid. Es sind nur dumme Kinder.« Kilian hält seinen Korb fest. Judith legt ein paar Münzen auf die altmodische Registrierkasse und verläßt das Geschäft.
Leonie
Leonie öffnet die Spülmaschine und stellt die beiden Suppenteller hinein. Kleine Nudelgespenster
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