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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Zeigefinger ist in die zerkaute Unterlippe eingehakt. Leonie ist sicher, daß Stavros’ Geschichte Stoff für viele unruhige Nächte sein wird. Trotzdem ist sie stolz auf Lisa. Felicia hat ein Bonbonpapier aufgehoben und hält es unter lautemQuietschen hoch. Vor dem Geräteschuppen an der Schafweide hat sich eine lange Schlange gebildet. Trockeneisnebel quillt aus dem gekippten Fenster, begleitet von dumpfen Tönen. Lisas Hand ist klebrig und kalt. »Ist die Geisterbahn sehr gruselig?« wendet sich Leonie an eine Vampira im Grundschulalter. Das Mädchen zieht unter der weißen Schminke eine verzweifelte Grimasse. Felicia ist hingefallen. Sie hat sich auf die Lippe gebissen und blutet. Leonie nimmt sie hoch. Das Gebrüll ist schrill. Sie wirft einen Blick auf das zerknitterte Gespenst in Lisas Hand. »Nummer 27, da stehen wir hier noch eine halbe Stunde, das geht nicht mehr mit deiner Schwester. Ich frag mal, ob die Großen uns vorlassen. Mattis kann mitkommen, Hanna will bestimmt auch nach Hause.«
    Ein paar ältere Vampire und Hexen finden sich unter anfänglichem Murren und Achselzucken bereit, Lisa den Vortritt zu lassen, halten ihr sogar die Tür auf. Blaue und violette Lichtstrahlen zucken über ihre Fußspitzen, der Muff von Blumenzwiebeln und Torfmullsäcken aus dem Inneren wird überlagert vom stechenden Geruch des künstlichen Nebels. Die Trommelschläge sind dumpf und regelmäßig wie der Pulsschlag einer verborgenen Kreatur. Jetzt schaut Leonie zu ihrer ältesten Tochter hinunter. Lisas Augen schwimmen bereits, sie hält ihren Besen fest. »Kommst du bitte mit, Mama?« Leonie schüttelt den Kopf. Selbst wenn sie wollte, würde sie nicht in den Krabbeltunnel passen, durch den man ins Innere gelangen kann. »Nein, das ist nur für Kinder. Wenn du dich nicht traust, ist es nicht schlimm. Du mußt nicht.« »Du sollst aber mitkommen. Ich will da rein, aber nicht allein.« »Du kannst mit Mattis zusammen gehen.« »Nein, mit Mama!« Lisas Stimme kippt. Jetzt rollen auch Tränen über die geschminkten Bäckchen, der Unterkiefer ist vorgeschoben, die Mundwinkel herabgezogen. Sie stampft mit dem Fuß auf und umklammert Leonies Hand. »Ich will da rein. Du sollst mitkommen.« Feliciahat sich selbständig gemacht und versucht sich an Leonie vorbei ins Innere des Schuppens zu drängeln. Leonie blockiert den Durchgang, indem sie das rechte Bein wie eine Schranke vorstreckt. Die Zweijährige fängt an, wütend zu brüllen, und tritt mit den klobigen Winterstiefeln mit aller Kraft zu. Hinter ihnen grummeln ungeduldig die Älteren. Lisa schluchzt jetzt lauter und wiederholt ständig denselben Satz: »Du mußt mitkommen!« Mattis steht neben ihr und betrachtet sein Gespenst, ohne aufzuschauen. Hanna ist nirgends zu sehen. Leonie schwitzt, spürt die Hitze auf Hals und Backen, ein Schweißtropfen rollt unter dem dicken Pullover die Wirbelsäule hinab, das Kitzeln ist unerträglich. »Verdammt, Feli, hör auf, das tut weh!« Sie geht in die Hocke und packt die Kleine an der Kapuze, bevor sie ins Innere des Schuppens entschlüpfen kann. Der Kopf wird zurückgerissen, die kleinen Füße treten ins Leere. Leonie faßt sie um den Leib und spürt, daß sie fester als nötig zupackt. In diesem Moment kann sie verstehen, daß es Leute gibt, die zuschlagen. Tote Kinder in Mülltonnen, an Betten fixiert, vergraben im Keller. Nur damit endlich Ruhe ist. Felicia tobt in ihrem Griff. Sie zappelt und schreit so heftig, daß ihr grüne Rotzklumpen aus der Nase fliegen. Lisa ist Leonie im Augenblick wichtiger, sie versteht ihren Schmerz, den gekränkten Stolz. Es gelingt ihr, Lisa vom Schuppen wegzuführen, obwohl sie jetzt richtig heult, geschüttelt wird von Zorn und Enttäuschung. »Ich habe zu Hause noch was Tolles, das hab ich extra für euch gekauft, für die Halloween-Party, was Gruseliges, nur für dich und Feli.« Es dauert lange, sie muß gegen das Gebrüll der Jüngeren antrösten. Worte für Lisa, die Wärme des eigenen Körpers, das Getragen- und Gehaltenwerden für Felicia. Knie und Rücken schmerzen, sie tritt vorsichtig auf. Während sie noch spricht, die Hand des einen Kindes nimmt, das andere auf der Hüfte zurechtrückt, gehen sie langsam in Richtung Tor. Es ist inzwischen dunkel. Das Herbstlaub sieht schwarz aus, der Wegwirkt wie ein breiter Fluß, auf dem sie sich langsam hinabbewegen. Zum Abschied von Hanna und den anderen ist keine Zeit mehr. Leonie will nur weg. Sie dreht sich noch einmal um und sieht Mattis, der

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