Kürzere Tage
aus dem mit Monstergesichtern verzierten Ausgang der Geisterbahn krabbelt und sich langsam aufrichtet. Sein Gesicht, leuchtend im Schein der Lichterketten, ist von einer stillen Zufriedenheit erfüllt, als hätte er sich eben eine besonders große Portion Süßigkeiten einverleibt.
Felicia hat sich beruhigt, und Leonie stellt sie wieder auf die Füße. Dann wendet sie den Kopf, sucht nach Hanna, um wenigstens ein Winken loszuwerden. Doch diese geht mit schnellem Schritt auf ihren Sohn zu und packt ihn ohne ein Wort an der Hand. Die beiden verschwinden hinter dem Haus. Wahrscheinlich nehmen sie den oberen Ausgang. Keiner von beiden dreht sich noch einmal um.
Judith
In Nâzıms Laden sind Judith und Kilian die einzigen Kunden. Nâzım schenkt Kilian einen kleinen Apfel, in den er sofort hineinbeißt. Dabei betrachtet er die Auslage. »Er schaut auf Obst und Gemüse wie andere auf die Süßigkeiten! Darfst du der Mutter tragen helfen, Kili?« Das Kind nickt mit vollem Mund. Einkaufen ist eine ernste Angelegenheit, etwas Besonderes und ungeheuer Aufregendes. Judith ist zufrieden. Sie weiß, wie andere Kinder sich benehmen. Nâzım spaltet ein Selleriehaupt, sucht zwei besonders dicke Möhren und eine Lauchstange heraus, zupft einen Bastfaden aus dem Knäuel auf der Theke. Das Glockenspiel über der Tür tönt träge. Der Junge, der hereintritt, die Schnürsenkel an seinen riesigen schwarzsilbernen Turnschuhen offen, bringt einen Schwall kalte Abendluft, ein starkes After-shave und den Rauch seiner Zigarette herein, die er draußen auf dem Gehweg sorgfältig ausgetreten hat. Er geht auf Nâzım zu und begrüßt ihn mit Wangenküssen und ein paar Sätzen auf türkisch. Nâzım umarmt ihn über die Theke hinweg, seine Hände liegen dabei leicht auf den Schultern des Jungen. Dann tritt er einen Schritt zurück und tippt auf seine Armbanduhr. Seine Stimme wird lauter. Der Junge zieht die Augenbrauen zusammen. Sein blasses Gesicht unter dem glänzenden Haarschopf überzieht sich mit einer leichten Röte. Er antwortet ausführlich und entschuldigend. Judith kennt ihn vom Sehen. Er kommt aus einem der abgasgeschwärzten, unrenovierten Häuser, in deren unmittelbarer Nähe die ruhige Constantinstraße in eine verkehrsreiche und nicht sehr ansehnliche Hauptstraße einmündet. Mit einer Gruppe Gleichaltriger streunt er häufig unten am Olgaeck herum. Oft schon am Vormittag hocken sie auf Mülltonnenkästen und stehen in der Einfahrt des Discounters, futtern aus Chipstüten und kippenEnergy-Drinks runter. Kilian mustert den jungen Türken mit großen Augen. »Mama, der hat ja seine Schuh net zugebunden!« flüstert er hörbar. Der Junge lacht und wuschelt Kilian durch die Haare, beugt sich zu ihm herunter. »Klug bist du, hast du gleich gesehen, das machst du später auch, wenn du selber coole Turnschuh hast, gell«, ruft er und piekt mit dem Finger nach Kilian, der zwar kichert, sich aber sofort hinter Judith versteckt. Nâzım legt das zusammengebundene Suppengrün mit einer energischen Bewegung zur Seite und tritt hinter seiner Theke hervor, macht eine Handbewegung in Richtung des Jungen: »Das ist Murat, ein Sohn von meiner Cousine. Murat soll hier arbeiten, für ein paar Wochen. Hat mit Schule zu tun, Praktikum, was weiß ich. Hat nicht viel gelernt in der Schule, zum Beispiel, daß man nicht eine halbe Stunde zu spät kommt. Aber Familie ist Familie, da hilft man sich.« Judith nickt nur. Nâzım wendet sich Murat zu und scheucht ihn nach hinten in den Lagerraum, spricht jetzt deutsch: »Judith ist eine gute Kundin. Wenn du dich anständig anstellst, kannst du auch verkaufen, irgendwann.« Dann gibt es einen längeren Vortrag auf türkisch, bei dem Murat mit der Miene eines schuldbewußten Kleinkinds vor ihm steht. Judith sieht ihn durch den Holzperlenvorhang, er tritt von einem Fuß auf den anderen und fummelt mit den Händen an den Reißverschlüssen seiner modischen Steppjacke. Seine Füße sehen in den riesigen Hip-Hop- Latschen wie die Füße eines Roboters aus. Judith greift in ihre Jackentasche und zieht den Geldbeutel heraus.
Außer Nâzım, mit dem sie durchaus längere Gespräche über Nahrungsmittel und Lokalpolitik führt, kennt sie keine Türken. In der Hackstraße gab es die Familie Aydin, mit deren Mitgliedern sie sich im Treppenhaus grüßte, es gab Stern-Kebap am Ostendplatz, wo Judith sich oft Döner holte. Man lebte in gegenseitiger Nichtachtung nebeneinander her. In Ulis Waldorfkindergarten gehen nur
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