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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Zitronen im Eßzimmer und Weintraubenbüschel in dem Raum, den Simon beharrlich Bibliothek nennt, obwohl es dort nur ein mäßig gefülltes Regal gibt. Der Makler hatte behauptet, diese Art von Stuck sei einmalig in Süddeutschland, möglicherweise auf der ganzen Welt. Angeblich hatte der erste Konservendosenproduzent Baden-Württembergs, ein ehemaliger Obstbauer aus dem Remstal, die Decken nach seinen Wünschen dekorieren lassen. Auch wenn Leonie die rundbackigen Äpfel über ihrem Ehebett liebt, weiß sie, daß die Wohnung eigentlich eine Nummer zu groß für Simon und sie ist.
    Sie geht zum Kühlschrank und holt eine angebrochene Flasche Riesling heraus, gießt den Wein direkt in das nicht ganz geleerte Wasserglas. Leonie trinkt hastig und wartet auf die entspannende Wirkung des Alkohols, die seit der Abstinenz während der Schwangerschaften und der Babyjahre schnell einsetzt. Mit dem Butterbrot in der Hand tritt sie ans Fenster. Der orangefarbene Schein der Laternen beleuchtet die Straße. Aus Sandsteinquadern gefügte Gründerzeitbauten, die mit ihren Erkertürmchen und demopulenten Figurenschmuck wie kleine Ritterburgen wirken, wechseln ab mit hastig hochgezogenem Nachkriegsbeton in den zum Glück nicht sehr zahlreichen Bombenlücken. Fast jedes Haus besitzt einen großzügigen Hinterhof, es gibt Bäume und Sträucher mitten in der Stadt. Die Spuren des letzten Weltkriegs fallen Leonie in ihrer neuen Straße nur an Kleinigkeiten auf: ein paar Hauswände haben Einschußlöcher, eiserne Kellerabdeckungen tragen noch die Aufschrift ›Luftschutz‹. Die ganze Stadt ist vom Krieg und den überstürzten Aufbauten der Wirtschaftswunderjahre gezeichnet. Leonie nimmt Stuttgarts Unansehnlichkeit, das sie bis auf die Zeit in Montpellier nie länger verlassen hat, ungerührt zur Kenntnis. Sie hat Lieblingsplätze in ausreichender Zahl. Dazu gehören der mit Simon durchjoggte Bopserwald genauso wie das Eiscafé Pinguin am Eugensplatz, die eidechsenüberhuschten Trümmer auf dem Monte Scherbelino und seit August auch die Constantinstraße.
    Dabei war Leonie zunächst ungern aus ihrem Heumadener Reihenhäuschen ausgezogen: neunzig Quadratmeter über zwei Etagen, mit hellbeigem Teppichboden ausgeschlagen wie die Pappschachteln, die sie früher für ihre Puppen herrichtete. Sie wollte sich weder von dem handtuchschmalen Garten trennen, aus dem man bei offener Tür die Telefongespräche der Nachbarn mithören konnte, noch fort aus dem Neubaugebiet, das in den Achtzigern schick gewesen war mit seinen in Creme- und Olivtönen gestrichenen Fassaden. Es war ihr erstes gemeinsames Heim; die WG am Ostendplatz zählte nicht wirklich. Aber in Heumaden hatten Lisa und Felicia ihre ersten Schritte gemacht, es gab Grillfeste mit den Nachbarn und am Wochenende Radtouren durch die nahen Felder. Es war ein gutes Haus gewesen, freundlich, praktisch und unspektakulär. Niemandem, der es betrat, entfuhr jenes japsende Geräusch, das so gut wie jeder Besucher machte, der jetzt über ihre Schwelle trat – eingeschlossen ihre Eltern, diemit runden Augen und begeisterten Mienen durch die Räume geschritten waren. Ihr Vater hatte Simon auf die Schulter geklopft und gesagt: »Großartig, mein Junge, so stark sind wir nicht gestartet. Weißt du noch, Heidrun, unsere erste Wohnung?« Und es hatte nichts genutzt, daß Leonie eingeworfen hatte, daß es nicht ihre erste Wohnung war, sondern die dritte.
    Simon geht strategisch vor. Er will die Stationen seines Erfolges auf dem Stadtplan sichtbar machen. Rote Fähnchen kennzeichneten jedes eroberte Territorium: aus Heslach nach Stuttgart-Ost in die hippe Studenten-WG, dann das Reihenhaus im Grünen und schließlich, als bisherige Krönung, der Altbau im Lehenviertel. Viele Schauspieler, Sänger und Tänzer der nahe gelegenen Oper wohnen hier. Außerdem wimmelt es von Architekten, die die Hochschule im Akkord ausspuckt und bei denen Leonie sich fragte, wie sie in derartiger Dichte überleben können. Es ist ein bürgerliches Viertel, das ohne Vorgärten und Trockenblumenkränze an den Haustüren auskommt. Wer einen Balkon hat, läßt eine Mini-Provence darauf entstehen, mit Kletterrosen, Lavendel und Küchenkräutern. Ansonsten gibt man sich lässig und bekennt sich mit Leidenschaft zu seiner steinernen Umgebung. Die Kinder spielen in Höfen. Man geht in die Staatsgalerie, die Stadtbücherei und das schwarz-weiße Frühstückscafé an der Hauptstätter Straße. Bedürfnisse nach Grün werden im

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