Kürzere Tage
haften noch an den Rändern, gestockte Reste der Halloween-Suppe aus der Tüte: Trostfutter für Lisa, die tatsächlich entzückt war, Geister aus der viel zu stark nach Tomate riechenden Flüssigkeit zu angeln, und darüber ihre Niederlage langsam vergaß. Eine Packung bunter Plastikspinnen aus dem Discounter hatte Leonie als Dreingabe dazugelegt. Mit dem Aufteilen der Ekeltiere, dem Abspülen der Schminke in der Badewanne und der Abendmahlzeit war die Zeit schnell vergangen. Felicias Lippe glänzt geschwollen unter einer Schicht Wundsalbe, sie schnauft mit offenem Mund, der Atem ist warm und riecht nach Kinderzahnpasta. Lisa hat sich ganz aufgedeckt, das Nachthemd ist bis zur Brust hochgerutscht, zeigt die dünnen Beine, lang und muskelhart. Blaue und violette Hämatome, Spuren von Klettergerüsten und Fahrradstürzen, sitzen auf der hellen Haut der Schienbeine. Ein Unterhöschen mit Katzengesicht bedeckt die haarlose Scham. Es wäre so einfach, sie zu zerstören, denkt Leonie, viel Kraft ist nicht nötig, die Knochen brechen leicht, das Fleisch ist zart. Für eine Tüte Schaumzuckermäuse würde sie mit jedem mitgehen. Sie zupft die Decke zurecht und küßt Lisa, die sich stöhnend zur Seite wirft. »Ich beschütze dich, ich bin immer bei dir.« Leonie hat Tränen in den Augen. Gleichzeitig schämt sie sich der bedingungslosen Affenliebe, die sie für ihre Kinder hegt, ihrer Anbetung der banalsten Anlässe: ein hingeschmiertes Bild, eine Kopfbewegung. Sie kann die eigenen, von Talk-Shows und Nachrichten gefütterten Ängste mit dem Verstand abschwächen, in der Magengrube pocht die Panik weiter. Leonie ist eine eifrige und sorgfältige Zeitungsleserin. Ausgedachtes erträgt sie nur im Fernsehen. Dort kann sie ohne schlechtesGewissen stundenlang vor den billigsten Soaps ausharren. Allerdings ist die tägliche Lektüre beeinträchtigt, weil sie jede Nachricht mit möglichen Bedrohungen kurzschließt, die sich auf Lisas und Felicias Leben auswirken könnten: Attentäter und Schläfer, Ölkrise, Atombomben, zuckerhaltige Limonaden, Rentenkürzungen, Klimawandel.
Leonie geht zurück in die Küche, überdimensional wie alles in der Wohnung, mit himmelhoher Decke, schwarz-weiß gefliestem Boden und dem Klotz der Kochinsel in der Mitte wie ein chromschimmernder Altar. Sie schaltet das Radio ein, denn auch wenn sie die Ruhe genießt, ist sie ungern allein mit sich selbst. Die künstlich hochgestimmte Ansage des Moderators und eine Achtziger-Jahre-Ballade dringen leise durch den Raum. Auf dem Holztisch am Fenster stehen noch bunte Plastikbecher, halb geleerte Kakaotassen und ihr eigener Teller mit kalt gewordener Suppe und einem angebissenen Brot, das schräg am Rand lehnt wie eine gebutterte Mini-Rutschbahn.
Sie stellt das Geschirr zusammen und wischt den Küchentisch ab. Der Lappen und die feuchte Spur, die er hinterläßt, riechen säuerlich wie Frotteehandtücher, die nach dem Waschen zu lange in der Maschine gelegen haben. Sie wirft ihn in den Müll und wäscht sich die Hände. Die hellen Kinderstühle sind voller Krümel. Leonie holt den Handfeger unter der Spüle hervor. Er hat einen abgeriebenen Holzgriff und struppige schwarze Borsten, sie muß an die Mähne eines Wildpferds denken. Felicia klemmt ihn manchmal zwischen ihre speckigen Beinchen, läuft durch die Wohnung und ruft: »Hexe, Hexe!« Auch wenn Leonie täglich in Begleitung des Hexenpferds auf dem Boden herumkriecht, finden sich dort grauschwarze klebrige Inseln aus verschüttetem Saft oder Milch, die sich mit Staub und Krümeln verbinden und festbacken.
Im Flur liegt ihre Aktentasche, hingepfeffert neben einemHaufen Kinderjacken. Sie holt eine grüne Pappmappe heraus. Mit gerunzelter Stirn überfliegt sie die Papiere. Ihr kleines Büro ist eine wilde Landschaft von Papierstapeln, die sich um den Schreibtisch mit dem leise summenden PC gruppieren. Sie findet, ganz anders als zu Hause, immer alles, was sie sucht.
Dabei ist es die größte und schönste Wohnung, die sie bisher bewohnt haben: sechs Zimmer mit Fischgrätparkett, einem riesigen Bad mit zwiebelförmigen weißen Armaturen, löwenfüßiger Badewanne, Gäste-WC mit Dusche und einem Balkon, der mit seinen Sandsteinsäulen und dem Boden aus achteckigen Terrakottafliesen die hochtrabende Bezeichnung Loggia wirklich verdient. Das beste ist der Deckenstuck: Kirschen im Wohnzimmer, Äpfel im Schlafzimmer, Erdbeeren und Himbeeren in den Räumen, die die Mädchen als Schlaf- und Spielzimmer nutzen,
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