Kürzere Tage
Schloßgarten oder im nahen Wald ausgelebt. Wer hier wohnt, befindet sich im Mittelpunkt einer Stadt, die trotz aller Anstrengungen nie Metropole sein wird und deshalb einen gewissen behäbigen Frieden atmet. Die Nähe zum kleinen Rotlichtviertel mit seinen afrikanischen Einwanderern, die in kleinen vollgestopften Läden eingetrocknete Yams-Wurzeln kaufen und versuchen, möglichst günstig nach Hause zu telefonieren, und dem wilden Süden, Simons alter Heimat Heslach, mit seinen Arbeitersiedlungen, Döner-Buden und 99-Cent-Shops läßt einen nicht völligvergessen, daß auch andere, härtere Welten existieren. Leonie ist sich sicher, daß aus diesem Grund das Lehenviertel nicht ihre letzte Station sein wird. Simon wird keine Ruhe haben, bis nicht nur Größe und Schnitt, sondern auch die Lage seiner Bleibe dekkungsgleich sind mit dem Imago der Traumwohnung. Der Killesberg oder die Gegend um die Uhlandshöhe sind mögliche Endziele.
Auch sie hatte gejapst, als Simon ihr die Wohnung zum ersten Mal vorführte und mit beeindruckter, keineswegs entsetzter Stimme die Kaltmiete nannte. Es war mehr als ihr ganzes Monatsgehalt. Trotzdem verzichtete sie auf Gegenvorschläge, sagte auch nicht, daß man sich in Rohr, Vaihingen oder Stuttgart-Rot für weniger Geld ein größeres Haus mieten oder kaufen könnte. Es war ihr klar gewesen, daß Simon hier einziehen wollte. Er schob die Verbindungstür zwischen Wohn- und Eßzimmer auf, und als die spiegelnde Fläche des polierten Eichenparketts vor Leonie aufglänzte wie ausgelaufener Honig, sah sie den Zwilling dieser Wohnung vor sich. Es mußte gut fünfzehn Jahre her sein. Sie waren zusammen auf einer Party gewesen, bei einem Schulfreund, dessen Eltern übers Wochenende verreist waren. Das Fest fand im ersten Stock einer Villa in bester Halbhöhenlage statt. Simon war mit schnellen Schritten durch alle Räume gestreift, hatte Türen aufgerissen, obwohl dahinter offensichtlich etwas im Gange war, so wie im von gedimmtem Licht und durchdringendem Grasgeruch erfüllten Elternschlafzimmer. Leonie, die Simons rasche Ablenkbarkeit durch ihren Körper gerne austestete, war an diesem Abend nicht in der Lage gewesen, ihn zu fesseln. »Es hört einfach nicht auf, Wahnsinn.«
Das Mietshaus, in dem der 19jährige Simon mit seiner Mutter lebte, lag an der Hauptverkehrsader, die vom Marienplatz nach Heslach hineinführte. Im Erdgeschoß gab es einen Fleischgroßhandel, dessen orangefarbenes Schild einem schon von weitementgegenbrüllte. In unmittelbarer Nachbarschaft befanden sich ein Waschsalon, ein portugiesisches Restaurant mit grünlichen Butzenscheiben und ein Zeitungskiosk, der ständig mit einem Scherengitter verrammelt war. Das dunkle Treppenhaus mit seinen fettigen Kunststeinstufen stank faulig. Die Fahrstuhltür schloß sich mit blechernem Knacken hinter Leonie wie der Deckel einer verbeulten Keksdose. Sie sah unter der braungelben Beleuchtung ihr Gesicht im Spiegel, zu stark geschminkt für den ersten Besuch in Simons sturmfreier Bude. Sie fror in ihrem wadenlangen Jeansmantel, den sie bis zum letzten Knopf geschlossen hatte, denn darunter war sie nackt bis auf eine Garnitur schwarzroter Polyesterunterwäsche. Ingrid, Simons Mutter, stand jetzt gerade in der Parfümerie auf der Königstraße und verkaufte Seifen und Body-Lotions. Leonie war froh, ihr nicht begegnen zu müssen. Im Flur empfing sie, neben dem erregten und erfreuten Simon, ein ausgeklappter Wäscheständer, auf dem seine Boxershorts neben Ingrids Leopardenslips Größe 42 trockneten. Eine Vase mit verstaubten Seidenblumen stand neben dem Telefon. Im Wohnzimmer waren zwei abgeschabte Kunstledersessel um einen Mosaiktisch gruppiert, in dessen Mitte wartete ein sauber ausgewischter Aschenbecher. Neben dem Fernseher erhob sich ein einziges schmales Regal. Hier wurden ein paar Simmel-Romane und ein Stapel Zeitschriften von einem deprimiert blickenden Porzellanpierrot am Umfallen gehindert. Ein verspiegelter Kleiderschrank verdoppelte die durchgesessene Schlafcouch, auf dem Boden daneben standen ein Wecker und eine halbvolle Flasche Mineralwasser. In der Küche war ein Fleischwolf an der brüchigen Arbeitsplatte festgeschraubt. Nur Simons Zimmer war eine Oase der Normalität mit beeindruckender Hi-Fi-Anlage und einem riesigen Plakat von Luc Bessons ›Le Grand Bleu‹.
Später streifte Leonie in einem von Simons Sweatshirts neugierig durch die Wohnung. Das Shirt war steif gebügelt und rochnach Weichspüler. Über Ingrids
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