Kürzere Tage
Platitüden über das Wetter aus, die bei aller Zurückhaltung stets eine gewisse persönliche Aura tragen. Schlamper erträgt Felicias und Lisas unbeholfene Liebkosungen mit Geduld und stößt nur manchmal einen tiefen Atemzug aus, der wie ein Seufzer klingt.
Leonie sucht im Fach über dem Kühlschrank nach Süßigkeiten, denn ein paar Verkleidete werden bestimmt klingeln. Aus dem Wust von angebrochenen Kekspackungen, Brausebonbon- Armbändern und lose rollenden Kaugummikugeln fördert sie eine Tüte Schokoriegel ans Licht und legt sie griffbereit neben den Herd.
Die großen Fenster im Haus gegenüber sind von gelbem Licht erfüllt. Es ist jene Art von Beleuchtung, die einen bei Abendspaziergängen stehenbleiben und starren läßt, angezogen von fremder Wärme, von der Verheißung einer Privatheit, die die eigenen vier Wände niemals bieten können. Leonie tritt einen Schritt zurück und knipst die Deckenbeleuchtung aus. Dann stellt sie sich wieder auf ihren Posten, in vollem Bewußtsein, etwas Peinliches zu tun. Ein runder Tisch mit hummerroter Decke steht direkt am Fenster. Leonie sieht eine dampfende Schüssel, einen Brotkorb, tiefe blaue Teller, Kerzen, einen Strauß Astern und überlegt, ob sie und Simon überhaupt ein Tischtuch besitzen. Sie bejaht innerlich, es gibt die Weihnachtsdecke mit den tanzendenNikoläusen. Gegenüber nimmt eine schlanke Frau mit langem schwarzem Haar zugereichte Teller entgegen und füllt auf. Es gibt Suppe. »Wir hatten immerhin auch eine Suppe heute abend«, denkt sie und starrt weiter ins nachbarliche Fenster. Zwei Kinder sitzen mit am Tisch, es sind Jungen im Alter von Lisa und Felicia. Sie haben Schlafanzüge an und löffeln konzentriert. Der Vater, ebenso blond wie seine Söhne, reicht eine Schüssel mit Salat herum. Die ganze Familie benutzt Stoffservietten in der Farbe des Tischtuchs. Leonie schaut auf die Uhr: »Wie lange die schon stillsitzen. Keiner ist aufgestanden, sie haben nichts umgeschmissen und sich nicht bekleckert. Und sie essen Salat.« Der Mann erzählt etwas, die Kinder hören aufmerksam zu. Über dem Tisch hängt ein moderner Lampenschirm aus Milchglas, die Wände sind gelb gestrichen. Auf dem Fensterbrett sind brennende Teelichte, große Steine und Blumen in Vasen und Töpfen arrangiert. Leonie kann aus diesem Ausschnitt, winzig wie das Türchen eines Adventskalenders, erkennen, daß der Haushalt gegenüber von einer Person geleitet wird, die den ganzen Tag zu Hause ist. In Heumaden gingen die meisten Mütter arbeiten, wenn auch nur stundenweise, denn die beigefarbenen Häuschen wollten vor Renteneintritt abbezahlt sein. Leonies Fünf-Tage-Woche war ungewöhnlich, aber nicht so exotisch wie hier im Lehenviertel. Im Kindergarten der Mädchen gibt es den Trend zum Drittkind. Die meisten der akademisch gebildeten Vollzeitmütter wirken zufrieden in ihrer Rolle als unbezahlte Putzfrau, Köchin und Chauffeuse. Simon ist stolz auf sein »Business-Babe« und hat sie immer unterstützt. Manchmal bügelt er Leonies Blusen, wenn sie zu müde ist. Ingrid sei Dank kann er einfache Gerichte kochen und merkt, wenn es irgendwo zu schmutzig oder unaufgeräumt ist. In letzter Zeit nimmt diese Art der Mithilfe allerdings ab. Er kommt jeden Tag später nach Hause. Und gegen den Mann im Nachbarhaus ist er ein Macho mit Abwesenheitsgarantie. Dieser wirkt mit seinen breitenSchultern und dem gutmütigen, vor allem aus Nase bestehenden Gesicht wie der kleine Bruder von Gérard Depardieu. Er erscheint zu den unmöglichsten Tageszeiten zu Hause, kommt mittags regelmäßig zum Essen, erledigt die Kehrwoche vor dem Haus, oft begleitet von seinen beiden Söhnen, die mit Miniaturbesen und emaillierten Kehrschaufeln hinter ihm herwackeln.
Wenn Leonie in das Fenster auf der anderen Straßenseite schaut, hat sie das Gefühl, ein Bilderbuch aufzuschlagen, in dem alles so ist, wie es sein soll. Sie gönnt sich den Anblick der heiligen Familie, wie sie die Nachbarn nennt, fast täglich. Wenn sie in ihr eigenes Leben zurückkehrt, verspürt sie Gewissensbisse, teils wegen ihrer Neugier, teils wegen ihres schlechten Abschneidens bei diesem unwürdigen Wettstreit. Neulich hat sie versucht, zum Abendbrot wenigstens Sets aufzudecken und einen Salat anzubieten. Ihre Bemühungen endeten im Desaster: Felicia, begeistert über die Neuerung, zerrte ihr Set samt Teller und Becher zu Boden, um es genauer zu betrachten. Lisa lehnte die marinadetriefenden Blätter mit angeekelter Miene ab und fischte
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