Kürzere Tage
Schlafcouch hing ein einziges Bild: ein gerahmtes Schwarzweißfoto, das eine Landschaft in Luftaufnahme zeigte. Hügel, Wald, ein kleiner Fluß, die hingestreuten Würfel einer kleinen Ansiedlung im Hohenlohischen. Simon kommentierte von der Couch aus. Die Mutter war wild, zu früh schwanger, süchtig nach der großen Stadt gewesen. Zu Hause hatte man sie rausgeworfen. Später hatte sie dann trotzdem ein heruntergekommenes Einfamilienhaus geerbt, in das sie, unterstützt von ihrem Sohn, jeden Pfennig steckte. Neues Dach, neues Sanitär, super Einbauküche, gemeinsam verdient, und wenn sie in Rente ging, konnte sie gleich einziehen.
In Leonies Elternhaus wurde trotz der lukrativen Tätigkeit ihres Vaters als Wirtschaftsprüfer nie über Geld gesprochen. Sie staunte über Simons Frühreife in diesem Punkt. Zudem stellte sich heraus, daß sein enges Verhältnis zu Ingrid mit ihrer neuen Beziehung kollidierte. So konnte sie sich nie am Sonntagnachmittag mit ihm verabreden, weil er sich dann mit seiner Mutter zum Kaffeetrinken traf und das nicht als lästige Pflicht, sondern als heilige Übung anzusehen schien. Von der Verhütungsfrage war er geradezu besessen. Er fing sogar auf dem Parkplatz der Sternwarte, den sie spätabends häufig ansteuerten, damit an: »Wenn du jetzt schwanger wärst, müßtest du es abtreiben. Ich könnte nicht dafür zahlen. Ich bin meiner Mutter schuldig, daß ich keinen Scheiß baue.« Obwohl Leonie spürte, daß sie sich Simon zugehöriger fühlte als jedem anderen Mann, der ihr zuvor nahegekommen war, gaben Sprüche wie diese für sie schließlich den Ausschlag, sich für das Grundstudium in Frankreich zu bewerben.
Ingrid konnte sich nicht einmal ein Ei in ihrer neuen Einbauküche kochen, nie den Blick über die Felder ihrer Kindheit durch die Isolierglasfenster genießen, die sie zusammen mit ihrem Sohn ausgesucht hatte. Während Leonie versuchte, in Montpellier überSimon hinwegzukommen, starb seine Mutter an einer Hirnblutung. »Sie war schon kalt, als ich sie morgens wecken wollte.«
Ein paar Monate nach Ingrids Beerdigung setzte Simon sich ins Auto und fuhr nach Montpellier in Leonies Studentenwohnheim. Seit einem dreiviertel Jahr hatten die beiden nicht einmal eine Postkarte ausgetauscht. Doch als sie sich wiedersahen, schien alles wie immer. Sie war gleich in seine WG am Ostendplatz eingezogen und zu ihrer letzten Prüfung an der Uni von Montpellier mit dem Zug angereist.
Was Ingrid wohl zu ihrer neuen Bleibe gesagt hätte? Leonie war im nachhinein davon überzeugt, daß sie sich gut verstanden hätten. »Wahrscheinlich bin ich die einzige Frau auf der Welt, die sich eine Schwiegermutter wünscht. Eine, die mir erzählt, wie Simon als Baby war. Wann er trocken gewesen ist und ob er bald durchgeschlafen hat. Ob Lisa und Felicia aussehen wie er. Das Heumadener Häuschen hätte ihr bestimmt gefallen. Ihr eigenes war ja so ähnlich.« Sie ist sich sicher, daß ihre Schwiegermutter die Constantinstraße zwar schick und edel, aber in jedem Fall zu teuer gefunden hätte. Ingrids und Simons gemeinsames Lebenswerk, Ergebnis eiserner Sparsamkeit und krummer Schulhofgeschäfte, war gut vermietet. Simon vermied es, häufiger als einmal im Jahr dort nach dem Rechten zu sehen. Er sprach nicht viel über seine Mutter. »Ein Jammer, daß du sie nicht kennengelernt hast, sie war schwer in Ordnung.« Leonie benutzt Ingrids gutes Service, eine schlichte Angelegenheit in Weiß und Blau, und baut sich ihr Bild zurecht aus Simons seltenen Auskünften.
Sie spült den letzten Bissen des schon hart gewordenen Brotes hinunter und schenkt sich Wein nach. Auf der Straße ist mehr los als sonst. Die letzten Gäste des Halloween-Fests bei den ›Zaunkönigen‹ kehren heim. Kleine Gruppen von Kindern und Jugendlichen in Verkleidungen stehen auf dem Gehweg und in den Hauseingängen. Durch das Getümmel führt der alte Herr Posselt vongegenüber seinen Hund spazieren. Es ist ein betagter Jagdhund mit silberbraunem Kurzhaarfell und leberfarbener Schnauze. Er hinkt ein wenig, zerrt aber immer noch so kraftvoll an der Leine, daß sein Besitzer ihm nur mühsam hinterherkommt. Posselt, ein mittelgroßer, sich sehr gerade haltender Mann, muß um die achtzig sein und sieht mit seinem weißen Schnurrbart und dem sorgfältig gebundenen Seidenschal immer noch vorzeigbar aus. Wenn die Mädchen sich, meistens auf dem Heimweg von St. Anton, auf Schlamper stürzen, läßt er die Leine locker hängen und tauscht mit Leonie
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