Kürzere Tage
Tomatenstückchen mit den Fingern heraus. Simon kam mal wieder zu spät, und Leonie beglückwünschte sich selbst zum Kauf des Plastikgeschirrs.
Leonie weiß, daß die Frau Judith heißt, die Jungen Ulrich und Kilian. Sie erinnert sich, wie ihr Herz begonnen hatte schneller zu schlagen, als sie die Nachbarin mit dem jüngeren Kind zum ersten Mal aus der grün lackierten Haustür kommen sah, Hand in Hand und in ein Gespräch vertieft. Mit einem Blick registrierte Leonie die messingfarbenen Locken des Jungen, sein augenscheinlich gebügeltes weißblaues Sommerhemd und die hellen Shorts. Sie sah den Speckwulst an seinem Handgelenk und das fliederfarbene Kleid seiner Mutter, ihre helle Haut, das schwarze, hochgesteckte Haar über einem ovalen Madonnengesicht, ein geflochtenes Einkaufsnetz in der Hand.
Leonie hatte den Umzugskarton abgesetzt und die Nase kurz prüfend in den Ausschnitt ihrer Trainingsjacke gesteckt. Zum Glück hatte das Deo noch nicht gänzlich versagt. Sie griff sich mit gespreizten Fingern ins verschwitzte Haar, atmete tief durch. Der Karton mit dem roten Aufdruck der Umzugsfirma und Simons riesigen Druckbuchstaben »CDs: Abba, Elton John« blieb unter der Straßenlaterne stehen. Sie ging auf die beiden zu, die ihr fragend entgegenschauten. Leonie sprudelte ihren Namen heraus und die Umzugsgeschichte, gab Namen und Alter ihrer Töchter preis, fragte nach einem Spielplatz in der Nähe. Sie bekam eine schmale braune Hand gereicht, die für einen Hochsommertag überraschend kühl war, und ein paar Sätze im weichen Singsang des Honoratiorenschwäbisch, das hier gerne gesprochen wird. Simon, dessen Mutter alles getan hatte, um sich die Herkunft aus dem Hohenlohischen in der Landeshauptstadt nicht anmerken zu lassen, ließ den Kindern kein ›gell‹ durchgehen. »Ich bin Judith, und der, der sich da versteckt, das ist der Kilian. Kilian, komm mal raus und sag ›Grüß Gott‹.« Tatsächlich schob sich der Junge hinter den Falten des mütterlichen Kleides hervor, piepste seinen Gruß und blieb dann mit fest in den Stoff gekrallten Händen neben seiner Mutter stehen. Diese Vorstellung beeindruckte Leonie, denn Felicia hätte bei einer solchen Gelegenheit höchstens ein durchdringendes »Nein« hören lassen. Judith hatte leichte Knitterfältchen um Mund und Augen, die Leonie verrieten, daß sie ungefähr fünf bis sechs Jahre älter sein mußte als sie selbst. Die starken schwarzen Brauen waren nur wenig gezupft.
Leonie beugt sich zu dem Kleinen herunter. »Meine Mädchen werden sich freuen, wenn ich ihnen von dir erzähle, Kilian. Wenn wir eingezogen sind, kannst du uns besuchen.« Judith hatte sich eine Locke ihres Sohnes um den Zeigefinger gewickelt und lächelte. Jetzt ergriff Kilian das Wort. »Wir fahren morgen in die Ferien und müssen noch Pflaschter kaufen. Für mich und denUli.« Sie winkten zum Abschied, und Leonie stieg mit ihrem Karton die Treppen hinauf, um Simon von der neuen Bekanntschaft zu erzählen. Die Stille dieser Straße mitten in der Stadt, Nâzıms Laden und jetzt noch Kinder zum Spielen genau gegenüber, das waren lauter Puzzlesteine, aus denen sich die neue Umgebung zu einem farbenfrohen Bild fügte – für sie selbst und ihre Mädchen, die sich nur schwer vom Heumadener Häuschen trennten.
Ein paar Wochen später trafen sie sich auf der Straße wieder. Das Gesicht der Nachbarin war sehr braun. Der volle Mund, dessen Winkel leicht herabhingen, leuchtete unter einem hellen Lippenstift. Lisa und der ältere Junge hatten gleich ein Gespräch angefangen und mit einem langen blauen Plastikband, das wohl von einer Paketverschnürung stammte, ein Spiel begonnen, in das auch Felicia und Kilian einbezogen wurden. Leonie fiel erneut auf, wie leise und behutsam die beiden Jungen im Vergleich zu ihren wirbelnden Mädchen waren. Judith erzählte begeistert von den italienischen Lebensmittelgeschäften und der Schönheit des Comer Sees. Eine Einladung zum Spielen wurde nicht ausgesprochen.
An einem Spätnachmittag im September sah Leonie Judith, ihren Mann und die Kinder hinter dem Haus verschwinden, als sie selbst endlich den Volvo in eine Lücke gekurbelt und einen Haufen Einkaufstüten auf den Bürgersteig gestellt hatte. Die Erwachsenen trugen ein Kaffeetablett und einen Korb, Kilian und Ulrich Stelzen und Ball. Vermutlich war dort hinten ein Hof, in dem man die Nachmittage verbringen konnte, ohne sich mit Sack und Pack auf einem öffentlichen Spielplatz herumzudrücken. Leonie wurde
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