Kürzere Tage
Papiertüten, aus der Erde bohren, sie sehen, wie an Bäumen und Sträuchern ledrige Knöpfe sich zu klebriggrünem neuem Laub entfalten, warten auf die Rückkehr der Stare. Die struppige Wiese wird ringsherum eingefaßt von einer schmalen Rabatte, auf der die Rosen-Veteranen ihre letzten Blüten zeigen. In jeder Ecke steht ein schmächtiger Obstbaum: Apfel, Zwetschge und Birne sowie ein prächtiger Holunderbusch, dessen schwarzbehangene Dolden ab September Amseln und andere Singvögel in erstaunlicher Zahl anlocken. Ihr violetter Kot kleckert auf die hölzerne Einfassung der Sandkiste und das Dach der kleinen Hütte, in der sich die Kinder neben Gartengeräten und Gießkannen ein Spielhaus eingerichtet haben. Aus der Mauer ihres Hauses, direkt unter Posselts Wohnzimmerfenster, kommt ein Wasserhahn, an den Judith oder Klaus im Sommer einen roten Schlauch anschließen, um Uli und Kilian Badefreuden zu verschaffen und die Pflanzen zu wässern. Jedes Kind besitzt ein kleines Beet. Bei Kilian stehen noch ein paar Ringelblumen, die im Schutz der Hauswände nächtliche Minusgrade überlebt haben.
Judith schließt die Augen und legt den Kopf in den Nacken. Immer wieder stehen Nachbarn am Fenster und schauen auf sie und die Kinder herunter. Denen, die sie kennt, es sind wenige, winkt sie zu, die anderen ignoriert sie. Sie spürt ihren Neid und denkt kurz daran, wie sie selbst gierig aus dem dritten Stock auf dieses eingemauerte Stück Paradies geblickt hat.
Sie hat den Garten für ihre Kinder erobert, strategisch von dem Augenblick an, als ihr Bauch sich über demamphibienhaften Uli zu wölben begann. Damals lehnte sie stundenlang im Schlafzimmerfenster, die Arme auf ein Kissen gestützt, starrte ins Grüne hinunter und stellte sich eine Hängematte vor, in der sie mit dem Säugling an ihrer Brust schaukelte, während Blätterschatten grünlichgolden über sein Gesicht strichen. Die staunenden Augen verfolgten den Weg der Hummeln, die durch den blühenden Efeu taumelten, nackte Füßchen machten ihre ersten Schritte im Gras, nicht auf Asphalt und Stein.
Judiths Idylle wurde regelmäßig gestört durch Herrn Posselt, der mit einem mechanischen Rasenmäher versuchte, das schon kniehohe Gras zu stutzen. Er trug helle Bermudas, die verhornten gelblichen Füße steckten in Flechtsandalen. Über die mageren, weißen Unterschenkel krochen die Krampfadern wie blaue Regenwürmer und ballten sich in den Kniekehlen zu Nestern. Sie wurde gestört durch Frau Posselt und ihr mit linsenförmigen Muttermalen übersätes, locker hängendes Fleisch im ärmellosen Sommerkleid, durch schleimiges Husten über einem Tablett mit Keksen und Nescafé in Henkelbechern. Am schlimmsten fand es Judith, wenn die beiden in ihren Liegestühlen einschliefen. Dann sackten die Köpfe zur Seite oder gar in den Nacken wie bei Unfallopfern, Glieder hingen schlaff herunter, Münder standen offen, Speichel floß. Das hintergründige Brummen des Verkehrs auf der Olgastraße schluckte die feineren Geräusche im Garten, aber Judith war sich sicher, daß beide schnarchten.
Frau Posselts Klagen über die anstrengende Gartenarbeit fanden bei Judith ein offenes Ohr. Klaus’ sporadische Mäh- und Jätetätigkeiten wurden zu regelmäßigen Gartenstunden. In die Zivilisationskritik der Greisin – »Wie die Kender heut aufwachset, die habet ja koi Eckle mehr, wo sie frei rumspringe könnet. Da hatten mir’s früher besser« – stimmte sie ohne Zögern ein. Und schließlich sagte Frau Posselt: »Frau Rapp, wenn Ihr Babyle dann da isch, machet mir ein Gschäft, mir beide. Wenn Sie net die halbNachbarschaft vor unserm Stubenfenschter umeinanderhopfe lasset, dann sag ich, und mein Mann sowieso, nehmet Sie das Gärtle für Ihre Familie.«
Judith hielt sich an die Abmachung mit der alten Dame und lud höchstens einmal in der Woche andere Kinder zum Spielen dort ein. Eine Ausnahme bildeten die Geburtstage von Ulrich und Kilian, die beide Anfang September auf die Welt gekommen waren. Dann gab es ein Fest im Garten. Sie liehen sich Bierbänke, hängten Lampions in die Bäume und luden Großeltern, Paten und Geschwister ein, die alle begeistert herbeiströmten. Judith kochte und backte. Es gab eine sanfte Obst-Bowle, Apfelkuchen und große Bleche mit Quiche und Pizza. Von den Fenstern aus sah man auf die weißgedeckten Tische, die Luftballons und die bunten Lichter im Gebüsch. Die Posselts und Schlamper kamen auch und spazierten ein wenig verloren durch die Schar der
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