Kürzere Tage
Feiernden: Ausgewanderte, die nach einem halben Jahrhundert in die fremd gewordene Heimat zurückkehren, sich zögernd an ehemals vertrauten Dingen entlangtasten: »Schau nur Luise, wie der Boskop auf einmal trägt!«
»Mama, Mama, guck mal, was ich hab!« Uli kommt aus dem Gebüsch, in der Hand eine Flasche. Auf dem halb abgepellten Papierschild faucht ein Drachenkopf: Wodka mit Flavour, knallrot eingefärbt. Über den gewölbten Boden schwappt ein Rest der leuchtenden Flüssigkeit, und Uli hat in Windeseile den Schraubverschluß entfernt und die Nase hineingesteckt. »Es riecht nach Gummibärchen!« Kilian kommt herangewackelt, »Uli, was hast du da, darf ich auch?« »Halt, Finger weg!« Judith kreischt, der Junge läßt die Flasche fallen, die Augen weit aufgerissen. Seine Unterlippe zittert, so rasch ist sie von ihrer Bank aufgeschnellt, reißt den Fund an sich und versenkt ihn tief im Grüngutsack. Ihr Herz klopft in der Kehle, sie fühlt nur Wut, auch auf sich selbst. Wie konnte sie das übersehen!
Uli streckt die Hände aus: »Mama, war das Gift? Darf ich mal anschauen, nur ganz kurz, ich trink auch nichts, ich weiß ja, wie das geht, von Schneewittchen, aber da hat die böse Königin das Gift ja in den Apfel getan und . . .« Judith schüttelt den Kopf, ihr Haar fliegt. »Ich hab es weggeschmissen und Schluß. Das ist nichts für dich. Geh zurück zu deinem Bruder. Ihr sollt nicht im Gebüsch rumkriechen. Schau mal deine Hose an.« Ihre Stimme ist laut und schrill. Sie haßt sich für ihr Benehmen und das Unverständnis in Ulis Augen. Er trägt Gartenhosen, die dürfen immer dreckig werden. Auch Kilian macht eine Armsündermiene, er läßt den Kopf hängen wie sein großer Bruder. Sie spüren genau, daß etwas faul ist, denkt Judith. Sie schämt sich, aber sie hat sich entschieden. Also steht sie auf, nimmt an jede Hand ein Kind und geht mit ihnen an die Rabatte, pflückt ein paar Astern. »Schau mal Uli, das gibt einen schönen Strauß für euer Zimmer. Hier ist noch ein Phlox, und ein Zweig Hagebutten würde gut dazu aussehen.« Sie schneiden eine Efeuranke ab und binden das Bukett mit einem langen gelben Grashalm zusammen. Uli atmet tief durch.
Kurz vor dem Mittagessen hatte Judith eine Anzahl vom Regen aufgeweichter Knallfrösche und ungefähr zehn an der Hauswand und am Wohnzimmerfenster der Posselts zerschellte Eier sowie mehrere ausgequetschte Tuben Senf und Zahnpasta in aller Stille weggeschafft, auch das Fenster der alten Leute mit Salmiakgeist wieder saubergerieben. Die Verwüstung war ihr aufgefallen, als sie die Betten zum Lüften über die Fensterbank gelegt hatte. Schleimiges Eiklar trielte von Posselts Panoramascheibe auf den Plattenweg. Die teilweise noch erhaltenen Dotter hatten pupillenlos aus dem feuchten Gras zu Judith emporgestarrt und den Brechreiz der Kindheit zurückgebracht, wenn die Mutter als schnelles Mittagessen »ein Ochseaug’« briet, das Judith dann mit der Gabel anstechen sollte.
Beim Blick in das Wohnzimmer der Posselts wurde Judith klar, daß sie diese Arbeit nicht aus Gefälligkeit gegenüber den alten Nachbarn tat, sondern, um die gestörte Ordnung wiederherzustellen. Sie sah Gummibäume und Philodendron auf der Fensterbank sich gegen die Scheibe drücken, daneben die angelaufene Messinggießkanne und weiter hinten das Dunkel der geprägten Tapeten, braunen Samtsessel und verschlungen gemusterten Orientteppiche. Der schlafende Schlamper lag in seinem Korb, die Schnauze auf den gekreuzten Vorderläufen. Der lange Rücken des Tieres hob und senkte sich regelmäßig. Es war kurz vor zwölf. Posselts aßen bestimmt in ihrem Eßzimmer, das auf die Olgastraße zeigte. Heute war Mittwoch, also gab es dort Buchteln mit Mohnfüllung. Das Rezept stammt wie Herr Posselt aus dem Sudetenland. Die lange und wirre Geschichte von Wenzel Posselts Odyssee aus Böhmen nach Stuttgart kannte Judith genau. Auch die Anfeindungen, denen seine Frau ausgesetzt war, als sie ihr urschwäbisches »Läpple« gegen den Flüchtlingsnamen tauschte. »Er war halt einfach der Charmanteste, da konnte kein Schwab dagegen an.« Frau Posselts Kämpfe mit den Finessen der böhmischen Küche waren Judith vertraut. »Noch nie hat ich so ein Zeugs kocht, niemand konnt es mir zeige, kei Schwiegermutter, die man frage konnt. Der Wenzel hat versucht, immer wieder, den Kopf gschüttelt und glacht. Und jetzt wechslet mir ab: montags gekochtes Rindfleisch mit Krensoß, dienstags Linsen mit Spätzle, Mittwoch
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