Kürzere Tage
Buchteln, Donnerstag Gaisburger Marsch . . .« Judith wußte nicht, warum sie diese Dinge behielt, die ihr Gedächtnis belasteten. Und doch durften sie dort nisten und anderes verdrängen. Frau Posselts böhmisch-schwäbischer Speisezettel und ihr endloses Paddeln in einem Ozean trüben Geschwätzes waren immer noch angenehmer als Rückblicke in die eigene Vergangenheit. Judith fetzte wütend Tücher von der Küchenrolle und beseitigte die Verunreinigungen. Es war ihr Garten, in den man eingedrungen war, derPlatz ihrer Kinder, den irgendwelche verwahrlosten, fernsehsüchtigen Monster geschändet hatten.
»Mama, dürfen wir jetzt die Gutsle haben, bitte?« fragt Kilian und legt den Kopf schief. Sein rechter Fuß scharrt im Gras. Uli steht ein paar Meter hinter ihm und grinst. Judith weiß, daß er den kleinen Bruder vorgeschickt hat. Sie bewundert die beiden. Wie schnell sie sich auf etwas Neues einlassen, an der Giftflasche vorbeidenken können. Sie hofft, daß auf den zisilierten, fein gedrehten Strängen ihrer DNA ihre eigenen Gene – sie stellt sich violette bis schwarz leuchtende Stäbchen vor, phosphoreszierend wie die Tischbeleuchtung in einem Club – weitgehend ausgemerzt sind. »Ich hab’s doch gesagt, die gibt’s erst, wenn der Mattis kommt. Schaut mal, ob im Häusle auch nichts fehlt! Hat jeder einen Teller und eine Tasse?« Die Brüder stürzen in die Hütte, um die Tischordnung zu überprüfen, denn in einer Viertelstunde sollen Mattis und seine Mutter Hanna kommen.
Sie wohnen nebenan. Ihr Haus ist ein glatt verputzter Zweckbau der Fünfziger, kleinfenstrig, vierstöckig, typisch für eine Bombenlückenbebauung, zum übrigen Bild der Straße passend wie ein toter Zahn im gesunden Gebiß. Judith kennt Hanna und ihren lebhaften Sohn schon lange. Sie treffen sich häufig auf der Straße. Judith erfährt dann die neuesten Schreckensmeldungen über Mattis’ letzten Krankenhausaufenthalt und die derzeitige Therapie. Mattis geht in den katholischen Kindergarten oben in der Sonnenbergstraße, ist aber trotzdem regelmäßiger Besucher im Gärtle und darf auch im Kinderzimmer zum Erstaunen und zur Freude von Judiths Söhnen Aufruhr im Ostheimer-Bauernhof verursachen: »Los, wir schießen auf den Ochsen, der fällt um, und dann kommt eine Bombe durch das Dach, das knallt dann runter auf die Schweine, und der Bauer, der stürzt in die Todesfalle, das Schwein und die Kuh hinterher . . .«
Hanna ist offensichtlich dankbar und hilfsbedürftig. Dazukommt, daß Uli und Kilian den wilden Springteufel, wie Judith Mattis insgeheim getauft hat, gern haben. So landet hin und wieder ein Zettel im nachbarlichen Briefkasten: »Kommt doch heute nachmittag ins Gärtle, wir sind da.« Daß Mattis, dessen winziges Kinderzimmer neben dem üblichen Holzspielzeug auch Playmobil und zahlreiche überdimensionale Stofftiere beherbergt, nur als Gast, keinesfalls als Gastgeber auftreten darf, ist eine stillschweigende Übereinkunft, an der Hanna noch nie gerüttelt hat. Mattis’ Gesundheitszustand sorgt ohnehin dafür, daß nur jede dritte Verabredung zustande kommt.
Judith spürt ihre eigene Aufgehobenheit, wenn sie Hanna mit ihrem Kind blaß und hektisch die Straße entlanghetzen sieht, wenn sie, unterstützt von ihrer Mutter, den wöchentlichen Großeinkauf aus dem Kofferraum ihres alten Renault wuchtet und sich dabei unter deren Wortschwall duckt wie unter einer kalten Dusche. Die Tatsache, daß diese Frau alles alleine bewältigen muß, niemanden hat, auf den sie Verantwortung abwälzen kann, erfüllt sie mit Bewunderung und Furcht. Sie weiß genau, daß sie nicht in der Lage wäre, ihre Jungen ohne Klaus’ Hilfe zu erziehen, zu ernähren, daß ihre Lebensform eine aussterbende ist: Alleinverdiener in Hausfrauenehe. Wenn sie Mattis und Hanna stundenweise in ihre Welt Einlaß gewährt, hat sie das Gefühl, bösen Mächten ein Opfer zu bringen. Und es ist wirklich ein Opfer, die fernsehgeschulten Kampfschreie aus dem sonst so friedlichen Kinderzimmer zu hören, in die ihre Jungen einstimmen, als hätten sie nie etwas anderes getan. Es ist ein Opfer, von Hanna, die an Judiths Eßtisch sitzt und den Tee vor sich kalt werden läßt, tief hineingezogen zu werden in das Leben eines Familientorsos. Judith schiebt den Kuchenteller in Hannas Richtung, in der Hoffnung, sie werde zugreifen, sich von selbstgemachter Rüblitorte den Mund stopfen lassen, ein Bollwerk aus Möhrenraspeln, Haselnüssen und Zimt gegen weitere Botschaften aus
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