Kürzere Tage
dieser tristenWelt. Natürlich funktioniert das nicht. Hanna spricht von lactosefreiem Joghurt und Sojamilch, von schwallartigem Erbrechen und wäßrigem Stuhlgang. Judith nickt und murmelt, dann schiebt sie ein Lob für Hanna ein, weil sie nicht weiß, was sie antworten soll. Eine leichte Röte zieht über Hannas blasses Gesicht, sie lächelt, ein seltener Anblick: »Ja, das sagen alle, daß die Mutter das meiste leistet. Nur meine Mutti glaubt das nicht so richtig.« Vielleicht sollte sie hier einhaken, Hanna aus der Reserve locken. Vielleicht möchte sie ihr Herz ausschütten, über die Mutter sprechen, die sicher viel für ihren Enkel tut, aber anscheinend ein Problem für ihre Tochter ist. Da kommt Mattis aus dem Kinderzimmer, ein riesiges, aus Matador-Holzklötzen zusammengehämmertes Gewehr in der Hand, rote Flecken auf den Wangen und das Nackenhaar dunkel von Schweiß. Er legt seiner Mutter das Werk in den Schoß: »Schau, das hat der Uli mit mir gebaut!« Judith erschrickt über die Präzision, mit der ihr Ältester aus dem seit über hundert Jahren bewährten Bausatz, aus dem sonst Tiere und Gebäude aller Art entstehen, eine Waffe konstruiert hat. Sie erschrickt über Abzugshahn und Magazin, die Mattis jetzt fachmännisch erläutert, erschrickt so sehr, daß sie nur aus den Augenwinkeln registriert, wie Hanna sich von ihrem Sohn abwendet und jetzt den Kuchen ißt, den Tee trinkt, kommentarlos, den ganzen Körper von Mattis wegdrehend, ein einziges »Hm« in seine Richtung, bis Kilian und Uli kommen und ihren Gast wieder ins Kinderzimmer ziehen.
Judith hat eine Abneigung gegen Mattis’ Oma, die laut, dicklich und mit Couperose auf den Wangen über das Schicksal ihres einzigen Enkels klagt und die alternative Ernährung für seine Krankheiten verantwortlich macht. Ihre eigene Schwiegermutter mußte zwar auch überzeugt werden, zu Weihnachten keine Plastikkräne oder Teletubby-Figuren zu schenken, ist aber hilfsbereit und freundlich und mischt sich nicht über Gebühr ein. Siebewundert Judiths Einsatz im Haushalt und die Gesundheit der Kinder: »Es wird schon was dran sein an der Waldorf-Erziehung.« Judith ist dankbar dafür, daß ihre Kinder mit der homöopathischen Hausapotheke auskommen. Nie stellte sich die Frage nach Stärkerem, Antibiotikum etwa oder Kortison. Was würde sie tun, wenn sich diese kleinen Körper im Schmerz aufbäumten, wenn Fieber nicht mehr ein unentbehrlicher Helfer beim Gesunden, sondern Lebensgefahr bedeutete?
Judith sieht auf die Uhr, es ist schon halb fünf. Die Mauern färben sich dunkelgelb, dann rötlich. Bald wird es dunkel sein. Ab fünf ist Aufräumzeit im Gärtle. Klaus wird dazukommen, dann gibt es Abendbrot. Sie gestattet den Jungen nun doch einen Griff in die Keksdose und überlegt. Hanna ist bestimmt bei der Arbeit aufgehalten worden. Mattis’ Kindergarten hat bis fünf Uhr geöffnet. Die Jungen werden enttäuscht sein. Gerade als sie darüber nachdenkt, mit Uli und Kilian ein Ballspiel anzufangen, hört sie aufgeregte Stimmen, hohes Zwitschern, eindeutig kleine Mädchen. Da kommen sie auch schon um die Hausecke gerannt und laufen über die Wiese zur Sandkiste. Sie tragen identische Jeansröcke mit aufgestickten Blumen, Lackstiefel mit pinkfarbenem Fellfutter und leuchtende Steppjacken. Von Mützen und Schals hängen viele tanzende Bommel. Was sie anhaben, könnten auch Sechzehnjährige tragen. Die Röcke enden weit oberhalb der Knie und zeigen Beine in rosa Wollstrumpfhosen. Die Mädchen beginnen sofort mit der Eröffnung eines Restaurants. Sie räumen begeistert Löffel, Töpfe und Siebe aus der Holzkiste, die Ältere kommentiert laut jeden Gegenstand: »Das ist der Mixer! Und hier die Fritteuse, da machen wir Pommes!« Sie brüllen den erstaunten Ulrich aus der Hütte, der zuerst stutzt, dann aber grinst und mit Kilian an der Hand dazukommt.
Leonies rotes Haar leuchtet vor dem Hintergrund der efeuüberwuchterten Hausmauern. Sie trägt ein Kostüm, dazu einenhellen Tweedmantel und Stiefel mit hohen Absätzen. Über der Schulter baumelt eine Lederaktentasche. Mit schnellen Schritten kommt sie durch das Gras auf Judith zu. Judith ist gespannt, ob sie im feuchten Grund einsinkt, aber sie setzt die Füße so geschickt, daß sie ohne jedes Malheur neben ihr auf der Bank zu sitzen kommt. »Ich wollte immer bei euch anrufen, aber es hat irgendwie nie gepaßt. Ich hab gedacht, wir schauen einfach vorbei. Der ist ja wunderschön, der Garten, das erwartet man gar nicht
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