Kürzere Tage
neidisch, denn bei ihnen gab es hinter dem Haus gerade einmal Platz für Mülltonnen und Fahrradständer. Sie wäre gerne hinterhergegangen, entschied sich dann aber für die zurückhaltende Variante: Die Neuen mußten zum Mitmachen aufgefordert werden. Sich aufdrängen kam nicht in Frage.
Der helle Dreiklang ihrer Türklingel reißt Leonie hoch. Das Weinglas ist fast leer. Sie geht durch den Flur zur Gegensprechanlage: »Süßes oder Saures!« schallt ihr eine krächzende Stimme entgegen. »Okay, kommt hoch. Dritter Stock!« ruft sie in den Hörer.
Die vier Jungen, die jetzt vor ihrer Tür stehen, kennt Leonie alle von den ›Zaunkönigen‹. Die zum lautlosen Schrei erstarrte Scream-Maske hat einer von ihnen in die dichten schwarzen Haare zurückgeschoben. Ein anderer verbirgt sich hinter dem zerfressenen Antlitz des Kürbiszombies, sein Nebenmann reibt sich die mit schwarzer Schminke verschmierten Augen. Der Wortführer der Bande ist dunkelblond. Er ist nicht verkleidet, als ob er seinem blassen Gesicht mit den schrägen blauen Augen und dem provozierend verzogenen Mund mehr zutraut als jedem Kostüm. Er richtet das Wort an Leonie: »Cool, daß Sie uns aufgemacht haben. Haben Sie keine Angst, so allein zu Hause? Wir könnten ja noch reinkommen, auf ein Gläschen.« Sein Gefolge macht große Augen, kaut dazu mit vollen Backen. In diesem Augenblick unterscheidet sie nichts von Lisas und Felicias Freunden aus St. Anton. Leonie läßt ihren rechten Fuß an der Wade des linken Beins hochgleiten, hält sich am Türrahmen fest, eine Ballerina in grünen Strumpfhosen. Sie kommt sich mindestens so alt vor wie Mrs. Robinson. Was sie wohl tun würden, wenn ich sie jetzt wirklich hereinbäte? Vermutlich die Flucht ergreifen. Sie grinst. »Das würde ich an eurer Stelle nicht tun. Mein Mann muß jeden Moment nach Hause kommen, und der macht Karate.« Sie wünscht sich, daß Simon jetzt wirklich die Treppe heraufkäme und ein paar seiner dummen Heslacher Proletensprüche losließe: »Wißt ihr auch, was ihr euch da vorgenommen habt? Die Frau, die hat zwei Kinder gekriegt, die schafft ihr nicht mal zu viert.« Darüber würden sie gemeinsam in ein pavianartiges Männerlachen ausbrechen. Dann würde Simon sie hochheben und insSchlafzimmer tragen und sie würden miteinander schlafen, gekonnter und rücksichtsvoller als vor 15 Jahren, immer mit der Angst im Nakken, daß der Ruf »Mami, Papi!« jederzeit erschallen könnte.
Leonie verabschiedet die Jungen und geht zurück in die Küche. Gegenüber sind fast alle Fenster dunkel, bei Posselts brennt noch Licht, aber die haben dichte Gardinen, alte Schule. Die kleine Gang zieht weiter. Sie boxen einander in die Rippen, tänzeln hin und her, ziehen sich an den Jacken, einer springt dem anderen auf den Rücken und läßt sich ein Stück weit tragen, der Rest stürmt hinterher. Sie verschwinden im Dunkeln.
In der Diele auf dem Sideboard liegt der hellgelbe Umschlag. Leonie nimmt die Einladungskarte heraus. »Auch wenn es mitten in der Woche ist, ich werde nur einmal 35. Kommt und feiert mit wie früher – als ob’s kein Morgen gäbe, mit Achtziger-Mucke und Eurer Conny. Tatort: Hexle, Tübingen.« Conny war die letzte Überlebende aus Leonies alter Tennisclique. Sie möchte unbedingt zu dieser Fete, nicht nur wegen Conny. Auch um den neuen Rock mit dem türkisblauen Zickzackmuster zu tragen, mit Simon zu tanzen und in einem Hotelzimmer bei vollem Tageslicht Sex mit ihm zu haben. Frau Kienzle, ihre Putzfrau, wird auf Lisa und Feli aufpassen und über Nacht bleiben. Es war alles organisiert. Leonie wählt die Büronummer.
Er meldet sich gleich, knurrt nur ein kurzes Hallo. Leonie weiß, daß sie ihn aus irgend etwas herausreißt. Im Hintergrund knattert ein Drucker. »Ich bin’s bloß. Brauchst du noch lange?« »Kann ich jetzt noch nicht sagen. Wahrscheinlich schon.« Seine Stimme klingt müde und genervt. Sie ahnt, daß es nichts bringen wird weiterzusprechen, aber sie tut es doch. »Ich wollte dich noch fragen, Connys Party, klappt das morgen abend?«
Simon seufzt schwer, nicht ungeduldig, sondern als ob ihn ein verborgener Schmerz quält. »Morgen ist schwierig. Gündert hat ein Meeting angesetzt, es geht um die Evaluation. Ich tu, was ichkann, Baby. Ich mach jetzt Schluß, tschau.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, hängt er auf. Leonie horcht dem Freizeichen nach. Am liebsten möchte sie einstimmen in den monotonen Klageton aus dem Hörer. Sie weiß, daß Simon das Gespräch
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