Kürzere Tage
beendet hat, um der Wiederholung ihrer ersten Frage auszuweichen: Brauchst du noch lange? Es ist klar, daß sie schlafen wird, wenn er die Wohnung betritt. Die Nachttischlampe wird noch brennen, und Leonie wird mit geschlossenen Augen wahrnehmen, wie er neben sie schlüpft und sie an sich drückt, erschöpft und ohne jedes Verlangen. Sie geht in die Küche und schenkt sich noch ein Glas Wein ein.
Judith
»Mein Eimer ist voll, Mama!«
»Meiner auch!«
Ulrich und Kilian rennen auf Judith zu und kippen das zusammengerechte Laub aus ihren Blecheimern auf den Blätterberg, den sie in der Mitte der Wiese aufgetürmt haben. Sie schaut ihre Jungen an und genießt den Anblick. Sie tragen bunte Strickmützen, Filzjacken mit Holzknöpfen und derbe Lederstiefel. Ihre Augen glänzen, die Gesichter haben die Färbung verwaschener Sommerbräune, über der das Rot von Aufregung und Bewegung an der frischen Luft liegt.
Seit fast zwei Stunden arbeiten sie im Gärtle. Judith sitzt auf der Bank neben den Rosen. Es sind alte Büsche mit verholzten Stämmen, selbst die schmalsten Triebe sind mit Dornen besetzt. Dazwischen hängen die Hagebutten wie kleine Lampions. Über den hölzernen Klapptisch hat Judith eine karierte Decke gebreitet, darauf stehen ein Teller mit Äpfeln und Judiths verbeulte Thermoskanne. Zu Hackstraßenzeiten war sie, mit starkem Kaffee gefüllt, ihre ständige Begleiterin durch den Uni-Alltag. Heute enthält sie Früchtetee. Die Kinder rennen durch den Blätterberg. Der neblige Morgen ist einem sonnigen Nachmittag gewichen. In neun Wochen ist Weihnachten, und der Himmel ist von einem so durchscheinenden Hellblau, als ob hinter ihm schon Schneewolken warteten.
Das Gärtle ist nicht groß. Vielleicht 200 Quadratmeter liegen zwischen der Rückseite des Hauses, in dem Judith und Klaus mit den Kindern wohnen, und der nächsten Häuserreihe, die auf die vielbefahrene Olgastraße zeigt. In der Lücke dazwischen, gefüllt mit betonierten Höfen mit Parkplätzen und Müllcontainern, ist das Gärtle eine der letzten grünen Stellen. Im Geviert der hohenSandsteinwände bleibt Wärme lange stehen. Im Sommer kühlen lange Schatten. Judith hat hier unten ein beschütztes Gefühl, wie im Innenhof einer Burg. Die Mauern verhindern, daß der Blick schweifen kann. Es gibt nur den Himmelsausschnitt, über den Wolken, Vögel und Flugzeuge ziehen. Ein Himmel, der über allen aufgeht und nichts verrät. Er könnte genausogut über einer anderen Stadt, einem anderen Land liegen. Klaus lästert manchmal über das »Knastgärtle«. Judith lacht dann mit, verrät ihm nicht, daß ein einzig vom Horizont begrenztes Stück Land ihr nicht die gleiche Geborgenheit vermitteln könnte wie dieser von fünfstöckigen Altbauten eingefriedete Stadtgarten. Die Mumie aus der Hackstraße ist dann wieder da, die sich verkriechen und den Sarkophagdeckel über sich zufallen lassen möchte. Auch wenn Klaus inzwischen viel über Judith weiß, hat sie ihm nie davon erzählt. Ihren Entzug in dem Bett mit der grün glänzenden Überdecke tarnte sie als Serie schwerer Kreislaufzusammenbrüche, ließ sich Wasser, Kamillentee und Knäckebrot bringen, um dann irgendwann wieder aufzustehen und mit reduzierter Tavordosis schwanger zu werden. Die Tabletten stehen im Medizinschränkchen im Bad, neben Globuli, Meerwassernasentropfen und Heftpflaster. Sie nimmt jeden Abend welche, manchmal mehr, manchmal weniger. Biotin steht auf dem Gläschen: für Haare, Haut und Nägel.
Die schwachen Sonnenstrahlen wärmen Judiths Gesicht. Wahrscheinlich ist es der letzte Tag, an dem das Sitzen hier draußen möglich ist. Sie hört die Stimmen der Kinder. Sie stellen ein Märchen aus dem Kindergarten nach: Rumpelstilzchen. Uli gibt Regieanweisungen, Kilian befolgt alles bereitwillig. »Heißt du vielleicht Rippenbiest, Hammelwade oder Schnürbein?« Sie lachen über die Namen, neue Varianten werden probiert. Auch bei Niesel und Kälte blieben sie draußen, um die dünne Eisschicht der ersten Nachtfröste in der Regentonne zu zerhacken, mit alten Kochtöpfen und Holzlöffeln eine Matschsuppe zu rühren oder in derSandkiste Zwergenhöhlen zu bauen. Dies alles in Frieden zu tun wäre auf dem Kinderbauernhof um die Ecke nicht möglich. Das Gelände ist schön, aber Judith mißtraut der Klientel bei den ›Zaunkönigen‹. Das Gärtle hingegen ist fast wie ein weiteres Zimmer. Hier beobachten Kilian und Uli, wie sich Krokusse, Schneeglöckchen und die Tulpenblätter, spitz wie
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