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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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schweigend mit dem feuchten Lumpen am Körper der Toten entlang, umkreiste langsam die schweren Brüste, die von vier Kindern zerdehnte Bauchdecke. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, ich fürchte kein Unglück; denn Du bist bei mir. Luise und die Tante Annelies falteten die starren Hände, banden die großen Zehen mit einem roten Faden zusammen. Dein Stecken und Stab trösten mich. Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar. Hinterher rieben sie sich in der Küche die Hände mit Salz ab,tranken Kaffee und stopften ein paar Brocken Hefezopf nach. Alle, die bei einer Leiche mithelfen, müssen hinterher essen und trinken.
    Hinter der Küchentür im Korb steht der Trollinger, den Wenzel beim Türken gekauft hat. Jeden Samstag bringt er eine neue Flasche und macht ein Theater mit dem Korken. Wie wird sie mit ihren Händen die Flasche öffnen?
    Die Näne sah ganz anders aus als die Schusterin. Ein Jahr bevor Luise nach Stuttgart ging, war sie auf der Gartenbank eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht, im Sommer 1938. Sie bahrten sie in der Stube auf. Winzig und krumm steckte sie in ihrem Sonntagszeug, wie eine kleine Puppe, mit der kein Kind gern gespielt hätte: schwarzer Rock, schwarze Jacke mit Silberknöpfen, das Haar als kleiner Knoten im Nacken, grad wie ein Zwiebele von einem mageren Acker. Unter dem hochgebundenen Kinn lag die Zitrone als leuchtender Edelstein am Kropfband der Näne. Ihr feiner Duft konnte den Essiggeruch und den Mottenkugeldunst der Feiertagskleider nicht übertönen.
    Vor dem Küchenschrank, dessen Türen aufgerissen sind wie Altarflügel am Feiertag, entscheidet Luise sich für die Suppenschüssel vom guten Service. Zwölfpersönig mit feiner Poliergoldlinie. Luise hebt die Schüssel aus dem Schrank. Vier Liter werden da reingehen, mehr kann sie nicht schleppen. Sie dreht den Wasserhahn auf, stellt die Schüssel drunter. Warm muß es sein, um die kalten Glieder zu lockern. Und Kerzen, hat sie noch Kerzen? Sie kramt im Vorratsschrank: Kaffeedose, Knäckebrot – was im Weg steht, schiebt sie zur Seite, es fällt scheppernd runter, egal. Sie muß an die Kerzen, und die müssen brennen, bis sie von selbst ausgehen. In der Tiefe des Schranks findet sie winzige Stumpen, daumengliedlang und dunkelgelb. Sie kleben zusammen und riechen nach Honig. Im Wachs sind Christbaumnadeln eingeschlossen wie Fliegen in Bernstein. Es müssen Dutzende sein,mühsam aus den Haltern gepult, von ihr oder von Wenzel? Aber hier kommt es endlich, ein ganzes Paket, Haushaltskerzen, garantiert tropffrei. Der Preis klebt noch unten dran, 3,75 DM. Rosa sind sie.
    Inzwischen ist die Schüssel übergelaufen. Aus dem Hahn strömt es in den Ausguß. Luise wuchtet die Schüssel aus der Spüle. Sie kümmert sich allein. Niemand weiß, was man für den Wenzel tun muß. Später wird sie jemanden rufen. Die Nummer hat die Bruni sicher noch im Adreßbuch, damals von der Traudl. Oder die gelben Seiten, die liegen im Flur auf dem Telefontischchen.
    Die Traudl hat sie nicht herrichten dürfen. »Tante Luise, ich bitte dich, wir sind hier doch nicht auf dem Dorf. Das sollen die Profis machen. Du weißt, wie es mit uns steht.« Gelbe Wangen hatte die Traudl gehabt und einen höhnisch verzogenen Mund, alles von Mehl überpudert. Dennoch lebte sie weiter in Brunis Zorn, den nassen Augen und dem wütenden Gesicht. So war die Schwägerin gestorben, als ob sie selbst in der letzten Stunde ihre Verachtung zeigen wollte. Leckt mich, ihr alle, die ihr nicht von dort seid, von der lieben Heimathöh. Sie hatte ihr leid getan, die Traudl. Es war kein schönes Leben gewesen. Aber das mit der Bruni, das konnte Luise nicht verstehen. Daß ihre Schwägerin etwas prügelte und mit Füßen trat, was Luise selbst für ihr Leben gern gehabt hätte, das ging nicht in ihren Kopf.
    Die Bruni war ihr geblieben. Die könnte sie jetzt anrufen, auf dem Handy. Das schleppt sie ständig mit sich rum, fotografiert damit, geht ins Netz, was auch immer das sein soll. Bruni ist rund um die Uhr erreichbar. Aber hier kann Luise die Bruni nicht brauchen. Auch wenn sie wahrscheinlich die richtige Person wäre, um die Decke hochzuheben und zu sagen: »Tante Luise, es ist, wie es ist. Ich kümmere mich drum.«
    Wasser mit einem Schuß Wein. Sie wird alles ordentlich vorbereiten. So, wie es sich gehört. Was haben wir nicht allesüberstanden. Wir werden auch das überstehen, der Wenzel und ich, das Jubelpaar. Den Trollinger kriegt sie schon auf. Sie hat schon ganz

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