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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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ihn anhalten, so kann das nicht bleiben. Und der Spiegel! Sie zerrt die Überdecke vom Bett und wirft sie über das Glas. Jetzt sind sie weg, alle beide, Luise und Wenzel, Wenzel und Luise. Zum letzten Mal.
    Wann hab ich dich zum ersten Mal gesehen? August 45, am frühen Abend. Wie lauwarme Milch fühlte sich die Luft an. Der Himmel war hellviolett und rosa, und es roch auch so gut, trotz der Schuttberge, des brandigen, kalkigen Gestanks, der noch lange Zeit über der Stadt hing. Sträucher und Blumen blühten, Jasmin, Rosenbüsche, Holder überall in den Höfen und an den Straßenrändern. »Das macht der gute Dünger, die Asche und die ganzen Leut, die da drunten liegen!« hatte der Pfleiderer gealbert, ihr Vermieter, ein uralter Bock. Als es in der Fabrik noch was gab, hatte sie ihm öfter ein paar Täfele mitgebracht. Das war jetzt ihr Glück. Sie hätte nicht gewußt, wo sie bleiben sollte. Zurück nach Uhlbach, zur Mutter und zur Tante Annelies, das wäre nicht gegangen. Und dann hatte sie ja noch ihre Arbeit, Gottseidank. In der Schogladfabrik klapperten zwar nicht mehr die Metallformen mit der heißen, süßen Masse über die Bänder, aber die Amis hatten die Fabrik nicht geschlossen. Es gab keine Schmelztafeln mehr, keine Vollmilch rund in der Dose mit dem Eichelhäher, keine Katzenzungen. Aber dafür Puddingpulver und Sirup aus Kastanien. Luise konnte weiter tippen, Lohnlisten, Briefe. Alles mußteseine Ordnung haben. So blieb sie in der kaputten Stadt, im Kämmerle verkrochen wie ein Fuchs. Luise hatte Brennholz gesucht auf der Karlshöhe, nur einen Armvoll, sich auf ihr Öfchen gefreut, denn sie hatte einen Kanten Brot, ein Stückchen Erbswurst, so lang wie ihr halber Daumen, und ein paar Büschel Brennesseln. Gekocht schmeckte das Zeug wie junger Spinat. Jetzt nutzte es doch mal was, daß sie vom Land kam. Die Städter mußten erst mal ein Heftle lesen »Wir essen Wildgemüse«, damit sie nichts Giftiges abrupften. Nur ans Fressen dachte man damals, es war schlimm.
    Zur Fabrik ging sie jeden Morgen zu Fuß an den Trümmern vorbei. Aber sie hatte wenigstens einen Weg, ein Stück Alltag in all dem Durcheinander. Der fette Schokoladenduft hing schon lange nicht mehr in der Luft. Als sie angefangen hatte, in ihrer süßen Zeit, quollen die Magazine noch über von Zucker und Kakao, dann gab es nur noch Kräutertee, Bucheckernöl und Trokkenobst.
    Da kam einer die Staffel runter. Ein Großer, das konnte Luise sehen, schwarz wie ein Scherenschnitt, weil die Sonne schon so tief stand. Er trug Windjacke und Mütze wie ein Arbeiter. Luise war in einem alten Strickfetzen mit Lederflicken an den Ellbogen, drunter nur ein dünnes Baumwollkleid und Männerschuhe an den nackten Füßen. Die waren vorne aufgeschnitten, daß die Zehen Luft hatten. Meine Sandalen, todschick. Die Jacke hatte ihr der alte Pfleiderer gegeben, »Des isch meine, i han zwoi. Die hat zwar paar Löchle, aber warm isch se. Ich tät Se ja am liebschte selber wärme, gell?« Der Alte war kaum abzuschütteln, aber er gab ihr die kleine Bude für weniger als nix. An einem Batscher auf den Hintern war noch keine gestorben, da gab es ganz andere Geschichten. Ihr Holz trug Luise in einer Basttasche. Da schauten die Knüppel oben raus, die Brennesseln waren sauber zu Bündele verschnürt. Sie schaute auf den Scherenschnittmann, dem dieMütze schief auf dem Kopf saß. Er pfiff: »Das ist die Liebe der Matrosen«, und dann stolperte Luise. Die Tasche machte sich selbständig, alles polterte die Stäffele runter. Verdammt! Da war er schon bei ihr: warme Hände, die ihr aufhalfen, ein verboten hübsches Gesicht, dem ihren ganz nah. Er roch sauber, der kleine Zahnbürstenbart war sorgfältig gestutzt. Braune Augen, schwarzes Haar. »Mein Fräulein, vor mir müssen Sie aber keinen Kniefall machen!« Du arroganter Kerl, was mußt du auch so blöd pfeifen, und riechst nach Seife, nach Tabak. Dir scheint’s ja gutzugehen. Ich hab mich vorgestern zum letzten Mal gewaschen, mit kaltem Wasser im Zinkeimer. Für ein Stück richtige Toilettenseife würd ich sogar den Alten drüberlassen, ich schwör’s.
    Wenzel brachte sie nach Hause, ein richtiger Abendspaziergang, vorbei an den links und rechts weggekippten Häusern. Sie sah ihn schräg von der Seite an. Angeblich wohnte er gleich um die Ecke »bei einer Arztfamilie in der Johannesstraße. Sieben Zimmer, denen haben sie natürlich jede Menge Leute reingesetzt. Aber zum Lehrer sind alle freundlich, die Schulen

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