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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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man jetzt schon sehen, hinter dem Nebel. Im Nebel ruhet noch die Welt, noch träumen Wald und Wiesen: Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, den blauen Himmel unverstellt, herbstkräftig die gedämpfte Welt in warmem Golde fließen. Das läuft noch wie geschmiert. Die Kanne bekommt eine Mütze, von Bruni genäht. Jetzt muß Wenzel aber mal kommen. Luise nippt am Kaffee. Wach werden, ich muß wach werden.
    Aus dem Schlafzimmer kommt ein kurzes Bellen, dann langgezogenes Jaulen, das immer wieder von neuem ansetzt und dabei schließlich leiser wird, fast wie das Weinen eines müden Kindes. Luise schreckt auf, sie muß eingeschlafen sein. Das gibt’s doch nicht, tatsächlich, es ist bereits halb neun. Sie könnte sich selbst eine runterhauen für diese Greisengewohnheit. Der Kopf fällt auf die Brust, und weg bist du, am hellichten Tag. Luise, es ist doch gerade mal 60 Jahre her, daß man dir auf der Straße hinterhergepfiffen hat! Sie tastet unter der Wärmehaube nach dem Bauch der Kaffeekanne. Das Porzellan ist nur noch lauwarm. Langsam erhebt sie sich und tritt auf den Flur.
    Aus den geöffneten Türen der Zimmer rechts und links fallen breite Bahnen aus Herbstlicht auf die Teppiche, die Tapete, Lilien aus nachgedunkeltem Gold auf grünem Grund. Luise liebt die Düsternis des langen Ganges, der ihre Wohnung teilt, die schweren dunklen Möbel an seinen Seiten: Standuhr, Garderobenschrank, Trumeau. Sie säumen den teppichbelegten Pfad wie mächtige Bäume. Weich läuft sie auf dem moosigen Grund. Da ist der Jeschken,Dürers Hase und seine beiden Eichhörnchen schauen sie goldgerahmt von den Wänden an. Schlamper jault noch einmal hinter der halb geöffneten Tür. Luise muß an den Baumannskarle denken, Karl Baumann, ihren Geschichtslehrer in Uhlbach. Er war versessen auf die alten Römer. Sie kann heute noch das eine oder andere Sprüchle aufsagen: 753 – Rom kroch aus dem Ei. Sie denkt an das Bild in ihrem Geschichtsbuch: Varus, der die römischen Legionen im Gänsemarsch durch den dunklen Teutoburger Wald schickt: nickende rote Helmbüsche, der Adler auf der Stange wird von knorrigen Eichenästen angestoßen. Die jungen Soldaten frieren in der feuchten Kälte. Sie haben dunkle Augen, braune Haut, sind für südlichere Gestade geschaffen. Ihre Sandalenfüße treten vorsichtig auf, sie ahnen nichts Gutes. Eichelhäher schreien, dann blitzen die Kurzschwerter, das Gebrüll ist entsetzlich, als die Germanen über sie kommen.
    Sie legt die Hand auf die Klinke, angelaufenes Messing, fast grün und so kalt. Die Tür öffnet sich weit. Im Zimmer ist es dunkel, aber sie sieht Schlamper vor dem Bett sitzen. Jetzt dreht er ihr den Kopf zu. Die braunen Augen glänzen. Er wedelt, blafft kurz. »Wir wecken jetzt dein Herrle. Komm, wir ziehn das Rouleau hoch.« Luise faßt den altersgrauen Gurt und läßt den Laden hochschnurren. Der Gurt schnalzt zurück. Sie tritt ans Bett und schlägt behutsam die Decke zurück. Wenzel liegt auf der Seite. Sein Mund steht offen, die Augen sind geschlossen. Unter dem weißen, wirren Haar sieht sein Gesicht gelblich aus. Luise setzt sich auf die Matratze und greift nach seiner Hand. Die Hand ist kalt.

Luise
    Luise ist in der Küche. Sie will warmes Wasser holen. Es muß warm sein, mit einem Schuß Wein. Essig darf es auch sein, aber Wenzel soll keinen Essig bekommen. Meine Kehle ist trocken wie eine Scherbe; sie reichen mir Essig für den Durst. In Uhlbach hatte sie mitgeholfen, wenn die Nachbarschaft diesen letzten Dienst brauchte. Die Schusterin von nebenan war an Lungenentzündung gestorben, einen Tag vor Heiligabend. In der Stube stach die silberne Christbaumspitze an die Decke, die Vorhänge waren frisch gestärkt, überall roch es nach Scheuerpulver. Beim Wäscheaufhängen in der Kälte hatte sie sich den Tod geholt, eine große Frau mit langen weißen Gliedern, zum Waschen ausgestreckt auf dem Tisch im Mantel ihrer aufgelösten blonden Haare. Ihr Gesicht war schrecklich. Die Mutter und die anderen Frauen hatten gleich ein Tuch darübergebreitet, unaufhörlich murmelnd: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Die Züge der Schusterin waren in einem letzten gierigen Schnaufer erstarrt, bläulich die Wangen, dunkelviolett die Lippen des aufgerissenen Mundes, den keine Kinnbinde schließen konnte. Er erquicket meine Seele; er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Die Mutter fuhr

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