Kürzere Tage
wohnen, ich mach auch keine Mühe und eß fast nichts undbin eh den ganzen Tag in der Schule. Ich kann auch bügeln und kochen, alles, was der Onkel Wenzel mag: Knedliki, Schkubanki, Liwanzen. Ihr habt doch die Ausziehcouch im Herrenzimmer, da könnt ich drauf schlafen, bitte, bitte! Die Mutti, die war so ungerecht zu mir, ich will da nicht mehr zurück . . .« Kasperle witschte zwischen Luises Beinen hindurch und sprang an Bruni hoch. Daß das Kind nicht sofort in die Knie ging und die Liebkosungen des Hundes erwiderte, stimmte Luise besorgt. Schließlich saß sie im Wohnzimmer vor Kakao und mürben Hörnle. Tantenbesuche waren rar, obwohl die Schule oben am Hölderlinplatz nicht allzuweit weg war von der Constantinstraße. »Sie kommt jeden ersten Mittwoch im Monat. Dann kann sie bei dir essen. Punkt fünf schickst du sie los. Und denk an die Hausaufgaben, sie schludert gern.« Das war glatt gelogen von der Traudl. Brunis Hefte waren Dokumente reinsten Strebertums, sie war immer Klassenerste. Aber bei ihr und der Traudl war schon von Anfang an der Wurm drin gewesen. Dieses Kind, schon mit drei Jahren ein Biest, bereits in Reichenberg hat es fingerlange Zimmermannsnägel in die gute Rüstertischplatte gehämmert. Nicht einen, Gott bewahre, nicht zwei, drei Stück mußten es sein! Das renitente Ding, das auch in Stuttgart nicht spurte, immer Widerworte, ein wahrer Sargnagel.
Traudl war mit Einbruch der Dunkelheit herangerauscht. Ihre braunen Augen funkelten unter dem Schleierhütchen. Auch wenn es in der Wohnung keine Schläge gegeben hatte, im Treppenhaus hörte Luise das Klatschen und Weinen. Daß sie rausgelaufen und der Schwägerin in den Arm gefallen war, führte zu langer Verstimmung. Wenzel war böse geworden: »Was mischst du dich ein! Die haben ihr eigenes Leben. Die Traudl hat’s so schwer gehabt, die hat’s nie verwunden, was wir alles verloren haben. Die ist hier nie angekommen.« Da war sie wieder, diese seltsame Solidarität, die weit über das Geschwistertum hinausging, diese Verkleisterung mit dem kalten Ort hinter dem Gebirge, daß jeder, der vondort kam, der so sprach, »komm ocke«, und sich bekreuzigte, im Schnellverfahren heiliggesprochen wurde.
Das Kaffeewasser kocht. Luise gießt ein bißchen in den Hundenapf, spült ihn aus, dann ein paar Löffel Haferflocken, eine Packung ›Cesar‹. Der Deckel läßt sich schwer abziehen. Schon seit einiger Zeit kaufen sie nur noch die kleinen Portionen. Es riecht und sieht aus wie Leberpastete. Damals hätten sie es runtergeschlungen und dazu Halleluja gesungen, heute bekommt es Schlamper. Die goldenen Schälchen mit den bunten Aufdrucken sind natürlich viel teurer als eine Büchse, aber bei der kriegt sie den Deckel nicht mehr auf, auch nicht mit dem Öffner, das kostet zuviel Kraft. Wenzel fragt sie nicht nach solchen Dingen. Sie weiß, daß es ihm genauso geht. Da war dieser Orangensaftkarton, den er schließlich auf den Küchenboden knallte. »Verdammtes Scheißding, ich krieg dich schon klein!« Sie verzichten eben auf Büchsen, auf bestimmte Getränke mit bestimmten Verschlüssen, bohren und schneiden sich andere Öffnungen, um an ihre Milch, ihren Saft zu kommen.
Schlamper kehrt mit erdiger Schnauze aus dem Garten zurück, seine Pfoten sind schmutzig. Er geht gemächlich zu seiner Schüssel. »Du bist ein Guter. Der ruhigste, den wir je hatten.« Der Kaffee duftet stark und belebend. Sie nimmt die Butter aus dem Kühlschrank. Sie müssen einkaufen. Buchteln sind dran, heute ist Wenzels Tag. Was sie früher mit einer Hand erledigt hat, ist jetzt ein Hauptgeschäft geworden. Sie gehen eigentlich nur noch zum Türken. Schweres bringt Bruni mit dem Auto. In der Stadt unten waren sie schon ewig nicht mehr. Zu weit, zu anstrengend. Ist ja auch kein Spaß, alles ist so häßlich geworden, diese Dönerläden und Schnellrestaurants, Dreck und Autos und Gewimmel von Menschen, überall Geschäftsaufgaben, 1-Euro-Läden, nicht mal die Mark gab es mehr. Es ist besser, sie bleiben in der Constantinstraße, da finden sie sich zurecht.
Sie zieht die Vorhänge zurück, Herrenzimmer, Eßzimmer, kontrolliert den Thermostat: 25 Grad. »Tante Luise, Onkel Wenzel, ich muß ein Fenster aufmachen, hier erstickt man ja!« Sie deckt in der Küche, das Wohnzimmer ist ihr heute verleidet, sie mag nicht vor der schmutzigen Scheibe sitzen. Vielleicht kann die Rapp von oben helfen. Die wird ja ohnehin mit den Kindern ins Gärtle kommen. Es gibt einen schönen Tag, das kann
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