Kürzere Tage
Tübinger Hotelbetts. »Leo, sag doch, was mit dir los ist.« Ihr ist jetzt richtig schlecht. Sie schreit: »Soll ich dir vor die Füße kotzen, damit du weißt, was ich fühle?« Und so viele Äpfel, die hängen alle von der Decke, gleich fallen sie runter, für jeden einer, und wenn wir davon essen, werden wir sein wie Gott und erkennen Gut und Böse. Wer ist denn nun der Böse von uns beiden?
Simon schnauzt zurück: »Du spinnst ja wohl! Ich mach mich hier zum Affen, komm extra früher nach Hause, damit du zu deiner Party kannst, sitz hier mit den Kindern, und du kommst und pöbelst nur rum. Kein Mensch kann was dafür, daß du einen Kater hast! Und die Kinder, willst du, daß sie mitkriegen, wie du hier ausflippst?« Leonie stürzt sich auf diese Worte wie der Köter auf den Knochen. »Du glaubst, du kannst beurteilen, was die Mädchen brauchen? Nachdem du eine Nacht und einen Nachmittag alleine mit ihnen warst? Nie bist du da, und jetzt spielst du den großen Papi, der pädagogische Interessen verfolgt. Wir sind dir doch alle egal, scheißegal!« Sie kostet die Kraftausdrücke undihre Lautstärke aus, will ihn verletzen. »Nur hinter dem Geld bist du her, aber du wirst es nie schaffen, du wirst immer der kleine Prolet aus Heslach bleiben!« Simon hebt die Hand wie ein Verkehrspolizist. »Leo, ich glaube, du hast deine Tage, hör auf!« Sie kann nicht aufhören. Seine Ruhe macht sie noch wilder. Schließlich brüllt er zurück: »Du bist doch genauso! Wer will denn Volvo fahren und bei Breuninger Exquisit einkaufen! Wer hat nie aufgehört, Papis Gehaltszettel mit meinem zu vergleichen? Du könntest auch zu Hause bleiben, anstatt die Kinder bei diesen dämlichen Katholen versauern zu lassen! Da lernen die nichts fürs Leben!«
Die Schlafzimmertür geht auf. Lisa und Felicia schauen herein. Ihre Gestalten sind ganz klein in dem weißen Holzrahmen. Feli hat den Daumen im Mund, Lisa hält die Hand der Schwester. »Mama, Papi, was . . .« Sie weichen zurück, als Leonie sie ankreischt: »Könnt ihr einen nicht fünf Minuten in Ruhe lassen! Haut ab, ihr habt hier nichts verloren!« Die Milchflasche liegt in Reichweite. Bunte Schiffchen segeln über weiße Wellen gegen einen gläsernen Horizont. Sie schließt die Hand um das Gefäß und schleudert es in Simons Richtung. Glas klirrt, dann läuft Milch die Wand hinunter. Leonie möchte ihn auslachen, er glotzt sie an wie ein Wesen vom anderen Stern. Ja, so hat er sie noch nicht erlebt. Als ob ihm die Hühner das Brot weggefressen hätten. Ich bin nicht dein Brot, friß mich doch. Sie denkt an diese Delia aus Buenos Aires, die ihrem Mario tödliche Süßigkeiten anbietet. Sie schreien weiter, Heslach gegen Feuerbach. Es steht unentschieden, sie gehen in die Verlängerung, mit Dingen wie »Du kriegst auch keinen mehr hoch«, aber Simon schaut Leonie plötzlich nicht mehr an. Auch nicht die weißgefüllten Scherben in der Ecke. Die Flotte ist zerstreut in alle Himmelsrichtungen, rote, gelbe, grüne, blaue, lieber Martin, komm und schaue. Simon zeigt auf die Tür und sagt: »Die Kinder, wo sind sie?«
Ohne sich anzusehen, hasten sie durch alle Räume. Leonies Büropumps klacken über die Dielen. Aus der Küche kommt Musik, eine warme Frauenstimme, unterlegt von langsamen Streichern: »Tausend Träume weit, bis zum Rand der Zeit, mitten im Paradies«. Auf dem Tisch liegen drei aufgetaute Pizzen, rote Kreise in weißen Teigrändern, Olivenaugen, Tomatennase, Paprikamund, Käsekrümel auf dem Boden, umgestürzte Hocker, ein Hausschuh. Sie öffnet das Fenster und schaut hinaus. Auf dem Gehweg gegenüber läuft der alte Köter der Posselts herum, schnüffelt, bleibt stehen, den Schwanz eingeklemmt. Kein Mensch ist zu sehen, die Straßenbeleuchtung ist an. »Wer sich wirklich liebt, spürt den Zweifel nicht, mitten im Paradies.« »Sind sie im Kinderzimmer?« Leonie wendet sich Simon zu, der sofort antwortet: »Nein, da war ich eben.« Im Flur wühlt er mit beiden Händen die Kindergarderobe durch. Die hölzernen Tiere über den Haken grinsen selbstzufrieden. »Die Jacken sind weg, beide.« Leonie reißt ihren Mantel aus dem Schrank. Der heilige Antonius bringt Verlorenes wieder, du mußt nur feste beten. Sie rennen nebeneinander die Treppe hinunter auf die Constantinstraße.
Die Straßenlaternen schweben an ihrem Drahttrapez über der Fahrbahnmitte in der Dunkelheit, eine Girlande aus weißlichorange leuchtenden Vierecken, die sich bergab verkleinern. Es riecht nach Abgasen
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