Kürzere Tage
hört, umsich schlägt, wenn Leonie ihn wachrüttelt: »Laß mich, Mensch, ich bin fertig!«
Sie stahl sich ins Bad, duschte hastig und putzte die Zähne, vermied es, dem Spiegelbild in die Augen zu schauen. Plötzlich stand er hinter ihr, verschränkte seine Hände vor ihrem Bauch, ein lebendiger Gürtel aus rundlichen Fingern.
Simon hat lange, knochige Hände, die Haut springt bei Kälte an den Knöcheln leicht auf. Handcreme mag er nicht. »Bin ich schwul oder was?« Bei beiden Geburten hat er hinter ihr gestanden und sie gehalten. Sie konnte vor Schmerzen weder sitzen noch liegen, rannte in dem kleinen überheizten Kreißsaal hin und her, kniete auf dem Hocker, stöhnte und fluchte. Simons Hände waren schweißnaß, und sie verkrallte sich in ihn, um den Schmerz loszuwerden, indem sie ihn weitergab. Tobias hat auch Kinder. Zwei kleine Jungen, Zwillinge, am ersten Mai dieses Jahres geboren. »Tag der Arbeit, das ist ihr Motto. Sind total süße Kerle, aber sie machen mich fertig. Meine Frau stillt voll, sie kann beide gleichzeitig andocken. Fußballergriff nennt man das. Die Köpfchen sind die Bälle, unter jeder Achsel einen, die Füßchen zeigen nach hinten. Sieht witzig aus.«
Sie drehte sich um, sie sahen sich in die Augen. »Ich muß los, sonst komm ich zu spät ins Büro.« Er umarmte sie. »Fahr vorsichtig. Und vergiß nicht: Lesen bildet!« Er hielt ihr den Cort´azar hin. »Leider hab ich kein Geschenkpapier. Und ich hab viel drin rumgeschrieben, für den Artikel.« Sie fegte ihren Kram in die Kulturtasche, sah mit Ekel Zahnpastaspuren wie Vogeldreck auf dem rosa Kunstmarmor des Waschtischs, Tobias’ Bartstoppeln im Neonlicht, in jeder Pore steckte ein Stückchen Draht. Der gestrige Alkohol drückte scharf und sauer auf den Magen. Sie verzichtete auf das Frühstück. These are my salad days, slowly being eaten away .
Sie steigt aus und holt die Tasche aus dem Kofferraum, legt denKopf in den Nacken, um die kalte Luft an ihrem Hals zu fühlen. Bestimmt ist er voller roter Flecken, verräterische Signale ihrer Panik, schlimmer als jeder Knutschfleck. Der Himmel ist dunkler geworden. Jetzt sieht Leonie auf einmal die Wolken, weißlichgraue Puzzlesteine mit unregelmäßig gerupften Rändern, die sich mit großer Geschwindigkeit aneinanderfügen. Nur hinten, über dem waldigen Hügel Richtung Degerloch bleibt ein letztes Stück freie Bläue, die sich immer mehr verfinstert, violett wird und schwindet. Ein Windstoß bringt ein paar winzige Schneeflocken, die ihre heißen Wangen treffen, körnig wie Sand. Sie senkt den Kopf und fährt sich mit dem Ärmel über die Augen.
Gegenüber geht Judith um die Hausecke. Sie ist in Hosen und Gummistiefeln, am Arm hängt ein Korb. Kilian und Ulrich rennen ihr voraus, bunte Strickmützen leuchten in der Dämmerung. Sie tragen Laternen an Stöcken vor sich her, einfache Papierballons, die warm in Rot und Blau strahlen. »Mama, komm, wir hängen sie an den Holder!« Leonie duckt sich hinter die aufgeklappte Kofferraumhaube. Scheiß Idylle da drüben. Seit die Tage kürzer werden, laufen die beiden Jungen mit Judith fast jeden Abend Laterne. Sie ziehen die Constantinstraße hoch und tragen die leuchtenden Bälle vor sich her. Ihr Gesang ist dünn und melodisch. Sie gehen das sogenannte Schlangenwegle hoch, einen gewundenen Fußpfad durch struppige Anlagen, der hoch zur U-Bahn-Haltestelle Bopser führt. Auf dem Straßenschild steht ein Name, den niemand im Viertel benutzt. Durch die Straßen auf und nieder, siehst du die Laternen wieder, rote, gelbe, grüne, blaue, lieber Martin, komm und schaue.
Leonie schließt die Haustür auf und geht durch das Treppenhaus. Hinter ihrer eigenen Tür im dritten Stock tönt Musik, die ruhigen Beats eines deutschen Schlagers. Sicher SWR 4, Ingrids Lieblingssender, dazwischen Felis Quieken, Lisas altkluge Stimme und Simon, der etwas Beschwichtigendes äußert. Auf demFußabstreifer kleben Erdklumpen und Blätter. Als sie den Schlüssel herumdreht, springt die Tür schon auf. Lisa und Feli rennen heraus, karierte Schürzen über den Bäuchen. »Mama, Mama, der Papa macht mit uns Pizza! Schau mal, was wir schon alles geschnitten haben.« Leonie tritt in die Diele, die Reisetasche neben sich führend wie einen gefährlichen schwarzen Hund. Es riecht nach Zwiebeln. Kommt nicht näher. Vorsicht bissig. Die Mädchen stürzen sich auf sie, treten ihr auf die Füße, reden ohne Unterbrechung. Feli packt ihren Ärmel, zerrt daran und wiederholt
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