Kürzere Tage
angeknipst, um die öligen Neckarlandschaften, die grün genoppten Vorhänge und Kissenbezüge nicht genauer ansehen zu müssen. Im Schneidersitz saß Leonie auf dem breiten Bett, seltsam unberührt von der Tatsache, daß der Mann das Loch in der petrolfarbenen Wollstrumpfhose sehen konnte, durch das ihr kleiner Zeh hervorschaute. Sie fühlte sich unbeschwert, aufgehoben, vertraut. Tobias schnürte seine Schuhe auf und kickte sie in die Ecke unter den Fernseher, wühlte in der Minibar, zappte durch die Nachtprogramme. »Zuerst Soaps, dannCort´azar. Jeder soll zu seinem Recht kommen!« Sie tranken Wodka und küßten sich. Er zog ihr die Strumpfhose aus und streichelte ihre Beine, winterlich unrasiert. Die kleinen kupferroten Härchen stellten sich auf, er küßte ihre Knöchel, den Spann, die Hände wanderten höher und verharrten ganz von selbst auf den Oberschenkeln, im selben Augenblick, als Leonie »Halt« sagte. Dann flüchtete sie auf die Fensterbank. Sie konnte bequem darauf sitzen und in die Dunkelheit hinausstarren.
Wenn Simon jetzt bei Conny anrief! Simon, der jetzt die Mädchen bewachte. Plötzlich war sie sich ganz sicher, daß er rechtzeitig nach Hause gekommen war. Er hatte ihnen den verhaßten Kakao schmackhaft gemacht: »Trinkt, sonst werden eure Knochen so bröselig wie Butterkekse.« Er hatte sie in flauschige Schlafanzüge gesteckt und sämtliche Spängchen aus ihren Haaren gepult. Und bei der Gutenachtgeschichte todsicher zu ihrem Lieblingsbuch gegriffen, das Leonie aus purer Langeweile nicht mehr vorlesen wollte: »Eule legt sich in ihr Kissen zurück. Der Mond scheint durch das Fenster. Und Eule ist überhaupt nicht mehr traurig.«
Auf der Constantinstraße ist kaum Verkehr. Leonie fährt langsam, am Zebrastreifen bremst sie. Auf dem Brunnen sitzt die schöne Nackte. Das letzte Tageslicht läßt die weißen Glieder auf dem grauen Granitsockel leuchten. Sie hat den Kopf gesenkt, als ob sie sich schämt. Wahrscheinlich hat sie auch etwas angestellt. Der Körper ist lässig vorgeneigt, als stünde jemand hinter ihr, an den sie sich eben noch geschmiegt hat, jemand, der ihr Sätze sagt, die nicht angemessen sind, nicht zu ein paar betrunkenen Küssen, sehnsüchtigen Berührungen, einem Ständer unter den Jeans passen. Das Gartenbauamt hat der Brunnenfrau schon das Wasser abgedreht. Lisa und Feli können wieder in den leeren Becken herumklettern.
Hinter dem Brunnen steht ein Baum, der Himmel darüber istbläulichgelb. Am Stamm lehnt ein Junge und raucht. Zwischen seinen Knien steht eine Plastiktüte. Dunkelblondes Haar quillt unter der Mütze hervor. Leonie erkennt den Süßi-Schnorrer aus der Halloween-Nacht. Ein freches Aas. Er hat den Kopf gesenkt wie die Brunnen-Schönheit, die Brunnenschlampe. Genau wie sie sieht er nicht auf, scheint nachzudenken, unangreifbar, undurchdringlich. Ob Simon Milch gekauft hat? Leonie hält vor Nâzıms Schaufenster und schaltet den Warnblinker ein. Vor dem goldenen Hintergrund der Kugellampen steht ein riesiger Lilienstrauß in einer Vase, dahinter ist es schwarz von Leuten, die für den Feierabend einkaufen. Aus der Tür drückt sich Baumwollbeutel-Hanna. Mattis kommt langsam hinter ihr her, sein Gesicht ist kreidig unter der schwarzroten Spiderman-Mütze. Sie geht vor ihm her, überraschend lange Schritte für so eine kleine Person. Er bewegt sich wie ein alter Mann. Die Fäuste in den Taschen, schlurft er über den Gehsteig. Hanna schaut sich nicht um. Leonie fährt weiter, sie hat keine Lust, im Geschäft lange zu warten, sich Geschichten anzuhören, Laktoseintoleranz, Würfelhusten, großes Blutbild. Ich hab meine eigene Intoleranz, tatsächlich.
Direkt vor dem Haus ist ein Parkplatz, wenigstens das. Die Fenster zur Straße sind erhellt, Küche, Eßzimmer, Wohnzimmer. Warme gelbe Vierecke strahlen aus der Fassade. Leonie ist übel.
Sie lag auf dem Bett. Tobias schlief im Sessel. Bis auf Strumpfhose, Schuhe und Jackett wurde nichts ausgezogen. Gegen Morgen erwachte sie aus einem schweren schnapsigen Schlaf, der von bösen Träumen durchsetzt war: Simon nackt im Schlafzimmer, ein steinerner Apfel löst sich aus dem Deckenstuck, fällt auf ihn herunter, sein Kopf zerbricht wie ein rohes Ei. Die Leuchtziffern des Radioweckers auf dem Nachttisch zeigten 6:30 Uhr. Tobias hing im Sessel, den Kopf zur Seite geneigt. Sein Mund stand halb offen. Schlafen wie ein Toter, so mußte das aussehen. Sie kennt es von Simon, der so tief schläft, daß er den Wecker nicht
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