Kürzere Tage
und feuchter Abendkälte. Mehr Autos sind jetzt unterwegs, es wird eifrig eingeparkt, gekurbelt, gezirkelt. Leute, die Leonie noch nie gesehen hat, zücken Schlüssel und betreten die Nachbarhäuser, die Hände voller Plastiktüten. »Wo könnten sie hingegangen sein?« Simon ist sehr blaß, er dreht den Kopf unaufhörlich nach allen Richtungen. Leonie zuckt die Achseln. »Ich weiß es nicht. Aber wahrscheinlich haben sie den Weg genommen, den sie kennen. Die Straße runter, Bäcker, Nâzıms Laden.« Simon packt ihre Hand. »Nâzım, das ist es! Da fragen wir, der kennt jeden hier, der weiß doch, wie sie aussehen, hat sievielleicht vorbeilaufen sehen!« Leonie zieht ihre Finger zurück wie einen geraubten Gegenstand und rennt los. Die Bettel-Litanei in ihrem Inneren – laß sie mich finden, laß sie gesund sein, laß sie lebendig sein – wird immer wieder unterbrochen durch Namen – Dutroux, Tosa-Klause – und Bilder: Stofftiere, Blumen in Folie und Teelichte, Pappschilder mit filzstiftgemalten ›Warum?‹, dazu die schweigenden, erschreckend normal aussehenden Gesichter der Täter. Ich werde nie wieder Schokolade essen, nie wieder lügen, nie wieder ficken, lieber Gott, nie wieder mit ihnen schimpfen. Sie hat sie angeschrieen, in die kleinen Gesichter gebrüllt. Felicias flaumiges Haar, Lisas Schnute. Wie soll ich leben, wenn ich sie nie wiedersehe? Automatisch wendet sie im Laufen den Kopf nach rechts, starrt in den dunklen Schlund einer Garagenausfahrt. Erst stehenbleiben und gucken, das Auto sieht euch nicht. Sie werden heute abend nicht aufpassen.
Nâzım lächelt ihnen entgegen, als sie die Tür aufreißen. Das Glockenspiel bimmelt hektisch. Leonie ist so hastig, daß sie einen Korb umstößt. Zitronen, leuchtendes Gelb zwischen dunkelgrünen Blättern, kullern zu Boden. Nâzım stößt einen überraschten Ruf aus, aber sie dringt weiter vor, ohne auf ihn oder das Espresso trinkende Paar am Stehtisch zu achten. Sie rennt in den Nebenraum mit den Getränkekisten, dem Kühlregal voll schimmernder Gläser und Flaschen, beugt sich vor, um alle Ecken überprüfen zu können. Leonie hofft so stark, daß sie die rosa Winterjacken, die flauschigen Mützen bereits zu sehen glaubt. Aber da ist niemand, auch nicht an der leise brummenden Eistruhe.
Im Raum hängt schwerer Obstgeruch wie in einem Garten. Alle Sorten reifen hier gleichzeitig, dazu blühen im Fenster die Lilien und sondern seifigen Duft ab. ›Götterfrucht‹ liest Leonie auf einer Holzkiste. Darin umkleiden dünne Seidenpapiere jede Orange wie eine Kostbarkeit. Es gibt Ananas mit goldgrüner, rautenförmig eingekerbter Schale und dornigem Kaktusschopf,Pfirsiche, purpurn unter silbernem Flausch und Weintrauben wie poliertes Glas. Daneben liegen die Bananen in gelben Bündeln, glänzende Äpfel zur Pyramide geschichtet, rot, gelb, grün.
Simon ist es, der sprechen kann. Er atmet schwer, aber er ist es, der die Frage stellt, die Turnschuhfüße zwischen den Zitronen, das Getuschel der Espressotrinker im Rücken. Leonie kommt zurück, um sich neben ihn zu stellen und Nâzım mit ihren Blikken zu hypnotisieren: Sag ja, sag ja! Mach, daß er ja sagt: Ja, ich habe sie gesehen! »Nâzım, unsere Mädchen, Lisa und Felicia, wir suchen sie. Sind sie hiergewesen? Oder draußen vorbeigelaufen?« Nâzım runzelt die braune Stirn. Er überlegt und führt die Hand an die Wange, schließt kurz die Augen. Sie sind dunkel und ohne jeden Trost: »Oh, es tut mir so leid, ich habe keine kleinen Mädchen gesehen. Es war sehr voll die ganze Zeit, aber keine Kinder. Nur der kleine Mattis mit seiner Mutter, vor einer halben Stunde etwa. Es tut mir leid. Was ist mit Polizei?«
Leonie hat genug gehört. Sie wendet sich zum Gehen. Jede weitere Minute hier drinnen ist nutzlos. Sie will weg, zerrt an Simons Jacke. Der hockt am Boden und klaubt die verstreuten Früchte auf. Nâzım fällt ihm in den Arm. »Das mußt du nicht tun, laß nur, ich kümmere mich. Soll ich die Polizei . . .«
Das Glockenspiel über der Tür bimmelt wieder. Es müssen Lisa und Feli sein, die hier eintreten, schweigend und blaß, mit einem Schwall kalter Straßenluft und schmutzigen Schuhen, die Mundwinkel nach unten weisend. Es müssen doch ihre Hände sein, die eine knittrige Plastiktüte halten. Wie kommen sie dazu? Es ist ihnen streng verboten, mit Plastiktüten zu spielen. Sie möchte gerne sprechen, aber es kommt kein Ton heraus. Und warum zetert Nâzım jetzt so? Sie werden gleich anfangen zu
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