Kürzere Tage
laufend: »Mama, Mama, Feli auch, Feli auch«, um dem Redeschwall der Schwester etwas entgegenzusetzen. »Mama, der Papa hat uns heute ganz früh abgeholt, so früh wie noch nie, und die Feli hat mittags nicht geschlafen! Dann sind wir erst auf den neuen Spielplatz gegangen und dann nach Hause, und der Papa hat mit uns ›Obstgarten‹ gespielt, der Rabe hat verloren, und jetzt machen wir Pizza. Wir dürfen schneiden, denn wir haben heute früh so geweint, und da hat der Papa gesagt, er nimmt sich nachmittags frei, und jetzt sind wir da, und du bist auch da!«
Leonie geht in die Knie, um die Mädchen an sich zu drücken. Sie riechen nach Paprika. Ihre Münder sind mit rotem Saft verschmiert. Sie sind klein und warm, zappelig und schon wieder auf dem Weg in die Küche. Sie windet sich aus dem Mantel, kramt im Garderobenschrank, die Bügel stoßen klingelnd aneinander. Simons After-shave hängt zwischen den Sachen, da ist sein Schal, seine Jacke. Jetzt würde sie gerne Tobias anrufen. Sie schließt die Augen, fühlt seine Hände, die ihren Rücken entlangfahren, plötzlich liegenbleiben, sie lehnt sich zurück, zuckt zusammen. »Hey, Baby, was bist du denn so schreckhaft? Tut mir leid, daß ich nicht angerufen hab, aber die Mädels haben mir ganz schön zugesetzt. Beinahe hätten wir alle drei verpennt heute morgen, und dann haben sie auch noch so ein Theater beim Anziehen gemacht, daß ich sie bestechen mußte, sonst wäre ich zu spät gekommen. FreierNachmittag war mein Köder. Aber sie waren dermaßen süß, und ich dachte, irgendwas läuft hier doch falsch. Hab mich einfach ausgeklinkt, das schaffen die heute auch ohne mich. Gündert hat geschaut wie Arsch mit Ohren, aber egal. Ich hab so viele Überstunden, und das kann’s ja auch nicht sein, daß man seine Kinder nur schlafend sieht.« Simon steht hinter Leonie in der geöffneten Schranktür. Er trägt Jeans und ein Sweatshirt mit grünem Aufdruck: Let the good times roll . Sein Gesicht sieht sehr jung aus. Leonie muß an ihre Begegnung auf dem Lehrerparkplatz denken. Ein paar Fältchen und Augenringe sind dazugekommen, aber es ist immer noch Simon, und er wirkt wach und entschlossen. Sie dreht sich um und stellt ihm trotzig ihre zerrupfte Erscheinung entgegen, das ungeschminkte Gesicht, den fehlenden Ohrring. Jetzt muß er fragen. Was soll ich tun? Er streichelt ihr Haar, die Hände sind warm. »Du siehst ganz schön fertig aus. Habt ihr durchgemacht, gestern? Ich hab Conny eine Mail geschickt, mit Musik und Blümchen, aber erst nachdem die Kinder eingepennt waren. Nicht mal das Spiel konnte ich in Ruhe sehen. Die haben gesabbelt und kamen raus: Durst, Klo, Bauchweh, weiß der Hugo. Wie machst du das bloß, daß sie bei dir spuren?« Er merkt nichts, sieht nichts. Sie muß plötzlich niesen, hält die Hände vors Gesicht. »Oje, hoffentlich hast du dir nichts geholt. Hast du Tempos in der Handtasche?« Sie hört das Klicken des Schlosses, das Knistern der Packung, dann lacht Simon: »›Die Nacht auf dem Rükken‹. Ist das Schweinkram oder was? Wow, und trotzdem ein Suhrkamp Taschenbuch. Also Eierkopf-Sex. Liest du mir heute abend draus vor?« Er reicht ihr die Taschentücher und wedelt mit dem Cort´azar. Leonie spürt es heiß aus ihrem Magen aufsteigen, sie schluckt. »Halt doch einfach mal die Klappe, du hast doch keine Ahnung.« Sie reißt ihm das Buch aus der Hand und durchquert im Stakkato die Diele. Die Mädchen stehen auf Hockern am Küchentisch und schneiden etwas. Leonie läuft weiter.
Im Schlafzimmer ist das Bett ungemacht. Felicias zerzauster Bert liegt mit ausgebreiteten Armen über einem Deckenhaufen. Kinderschlafanzüge, Simons Boxershorts, ein Haufen Pixi-Bücher und eine halbvolle Milchflasche bilden eine wilde Landschaft. Sie läßt sich in den Korbsessel fallen, wischt die Tränen ab. Sie möchte sich schlagen und auch ihn, der da so schafsdämlich vor ihr steht. Was muß er denn jetzt hinter ihr herdackeln. Die ganze Zeit war er nicht da, aber jetzt steht er vor ihr. Zu viele Überstunden, daß ich nicht lache! Auf einmal geht es, auf einmal kann er nachmittags zu Hause sein! Simon nimmt sie bei den Schultern, sein Gesicht ist ganz nahe. »Leo, was ist los? Ist was passiert?« Sie schaut ihn an, kann nicht aufhören zu heulen. Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich! Was soll jetzt herunterfallen, oh, heiliger Antonius, vielleicht der zweite Ohrring? Der klemmt wahrscheinlich in der Ritze eines
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