Kürzere Tage
der Waffe züngelt eine kleine Flamme und leckt am Kopf des Streichholzes, das der Junge zwischen Daumen und Zeigefinger hochhält wie eine winzige Blume, leuchtend gelb mit einem blauen Rand. Leonie schreit auf, sieht Nâzım, der ihren Schrei zurückwirft wie ein Echo mit weit geöffnetem Mund und hochgerissenen Armen, hört hinter sich Simon und das Paar. Sie spürt, wie es aus ihr herausläuft, warm und naß. Der Junge steckt die Pistole vorn in seine Cargo- Hose, schiebt den Vorhang zur Seite und schleudert das brennende Zündholz auf die Theke.
Judith
Der Junge im gelben Schlafanzug zieht dem Holzschwein das schwarze Lederohr wie eine Piratenklappe über das Auge. Dann reißt er es wieder nach hinten und schaut zu Judith hinüber, ein Grinsen auf dem blassen Gesicht. Judiths Lächeln kommt spät, sie muß sich anstrengen, damit die Mundwinkel nach oben gehen. Die Uhr an der Wand zeigt schon zehn nach sechs. Vor der Glasfront im Foyer des Olgahospitals, dem ›Olgäle‹, steht die Dunkelheit, nur unterbrochen durch die Lampen im Garten. In dem großen Raum herrscht eine aufdringliche, weiße Helligkeit, die Judith nötigt, genauer hinzusehen, als sie eigentlich möchte.
Der kleine Junge bohrt dem Schwein seinen Zeigefinger in die Rüssellöcher. Sein Bauch unter dem hochgerutschten Pyjama wirft Speckröllchen. Die dunklen Augen sitzen im Fett wie Beeren in der Puddingschüssel. Die linke Hand des Kindes ist verbunden, ein durchsichtiger Schlauch steckt zwischen den Mullbinden. Überall im Foyer bewegen sich Kinder. Fast alle tragen den gleichen, verpflasterten Zugang für den Tropf im Handrücken, haben zusätzliche Verbände an den unterschiedlichsten Stellen. Ein Mädchen verbirgt den haarlosen Kopf unter einer Ringelmütze. An den Füßen tragen sie Hausschuhe aus Synthetikpelz. Häufig sind es übergroße Tierköpfe, die den Boden abzuschnüffeln scheinen. Die kranken Kinder spielen auf dem Holzschiff, das mitten im Raum gestrandet ist, oder klettern auf den an der Fensterfront aufgestellten Tieren herum.
Die Spielgeräte, die an einer Stellwand angepinnten Fotos vom letzten Sommerfest und den Aktivitäten des Klinik-Clowns wirken auf Judith wie das Pfeifen im Wald, klägliche Versuche, etwas Entsetzliches zu verbergen. Sie muß an antike Mumienporträts denken: mit dem Gesicht des Lebenden bemalte Holzdeckel übereinem von gedörrtem Fleisch behangenen Schädel. Seit sie das Krankenhaus betreten hat, jagen sich Bilder dieser Art in rascher Folge. In die Wand ist ein großes Aquarium eingelassen. Gegenüber blickt mild und gipsern die Büste der Stifterin aus einer Glasvitrine, ganz unköniglich unter einer Haube. Am Kiosk gibt es Ständer voll bunter Ratgeberliteratur, Comics und Malbücher. Ein Vater in Lederjacke wirft fünfzig Cent in den Münzschlitz an der elektrischen Eisenbahn. Die Märklin-Züge rollen los, das feine Rattern und die Rufe der Zuschauer locken die meisten Kinder herbei.
Judith sitzt in der Nähe des Kiosks. Überall im Raum sind Tische mit passenden Stühlen verteilt, die auf der riesigen Fläche wirken wie das bei einer Zwangsversteigerung übriggebliebene Mobiliar eines schäbigen Eiscafés. Von ihrem Platz aus sieht Judith die beiden Aufzüge, deren Türen sich ständig öffnen und schließen. Sie beobachtet die roten Leuchtziffern auf der Anzeige und hält jedesmal den Atem an, wenn ›E‹ erscheint und das gleichmäßige Brummen mit einem Ruck endet.
Als es dämmerte, stand Judith auf der Constantinstraße, einen Korb über dem Arm. Rotkäppchen, wohin gehst du, was hast du da in deinem Korb? Äpfel und Knäckebrot für meine Kinder, sie spielen hinter dem Haus im Garten, obwohl es gleich dunkel wird. Hanna und Mattis kamen ihr auf dem Gehweg entgegen. Die breiten Reflektorstreifen an seiner Jacke fingen die Lichter der vorbeifahrenden Autos ein. Judith fiel der schleppende Gang des kleinen Jungen auf. Viel zu lange im Kindergarten gewesen, dachte sie. Hanna strebte vorwärts, den rechten Arm nach hinten gestreckt wie eine gespannte Schnur, die sie mit dem langsam hinterherzockelnden Mattis verband. Judith öffnete den Mund zu einer Begrüßungsfloskel. Sie wollte es so kurz wie möglich machen, bloß kein ausgedehntes Schwätzle, keine Krankheitsgeschichten.
Während ihre Söhne die Lampions vorsichtig in den Holunder hängten, kurz das buntglühende Schaukeln bestaunten, holte Judith eine Schaufel aus der Hütte. Es gab Dreck zu beseitigen, der sie wütend machte: ein
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