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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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weinen, er darf sie nicht so anbrüllen. Er steht mit anklagend ausgestrecktem Zeigefinger da: »Was willst du hier, du kleiner Gauner? Du betrittst mir nicht mehr mein Geschäft, hast du verstanden?Sofort raus hier, du Abschaum!« Während Nâzım die erhobenen Fäuste langsam sinken läßt und einen Schritt zurückweicht, während Simon neben Leonie tritt und »Verflucht, was soll das werden?« murmelt und die Espresso-Frau aufkreischt, sieht Leonie einen schwarzen Gegenstand in der schmalen Kinderfaust. Es sieht häßlich aus. Woher haben sie das bloß? Wahrscheinlich draußen gefunden, gerade Lisa muß wirklich alles aufheben. Sie wird ihnen den Marsch blasen, wenn sie erst wieder zu Hause sind. Sie hört leises Klirren, aus der Tüte zieht die andere Hand eine Flasche und stellt sie auf den Boden.
    »Bist du wahnsinnig? Was hast du vor?« Nâzım flüstert.
    »Wo hast du deine Kohle, Türkensau? Rück’s raus, aber flottiflotti! Sonst knallt’s hier, ich schwör’s.« Und während Leonie noch denkt: Für diese Sprache sollte man euch mit Seife den Mund auswaschen, sieht sie den Jungen mitten im Laden stehen. Den schönen Jungen, dunkelblond unter der Kappe. Süßi- Schnorrer, Brunnen-Träumer, Tütenbesitzer. Wieder die tränentreibende Enttäuschung. Es ist seine Hand, wirklich zart für einen Jungen, die die Pistole hält, eine schwarze Waffe in einer schmutzigen Hand an einem Arm, der in einem billigen Nylonanorak verschwindet. Die Espresso-Frau und ihr Begleiter haben sich murmelnd weggeduckt. Simon packt Leonie und zieht sie zu sich heran. Sie spürt seinen angespannten Körper. Er murmelt: »So eine Scheiße, verdammt, so eine Scheiße.« Sie liest den Aufdruck auf der Tüte, sieht die Turnschuhe des Jungen, seine tiefhängende Hose, das blasse Gesicht, Nâzıms erhobene Hände. Simon und sie stehen aneinandergeklammert. Der Junge geht noch einen Schritt auf Nâzım zu und schreit: »Rück das Geld raus! Such deine Erbsenbüchse, du schwuler Arschficker, du Opfer!« Nâzım zittert. »Nur, was in der Kasse ist. Ich hab kein Geld im Laden. Nur Kasse!« Die Augen des Jungen sind eng stehend und hell. Die feingezeichneten Brauen ziehen sich darüber zusammen. Erschreit, Speichel fliegt: »Du lügst, du Sau, du lügst!« Leonie wagt nicht, sich zu rühren, Simon atmet scharf aus. Von hinten kreischt es: »Los, tun Sie doch, was er sagt! Geben Sie ihm das Geld!« Der Junge fährt herum, er hält die Waffe jetzt mit beiden Händen. »Runter mit euch auf den Boden und haltet die Fresse, sonst mach ich euch fertig!« Sie liegt neben Simon, die ersten in der Reihe. Löffelchenliegen auf dem kalten gefliesten Boden. Er hält ihren Arm immer noch umklammert. Hinter ihr knistert der Mantel der Espresso-Frau. Ihr Begleiter stöhnt, als er sich auf die Seite wälzt. Der Junge stößt Nâzım die Waffe in den Rücken. Der schwarze Lauf bohrt sich in die gestärkte Weiße seines Hemdes. »Ich mach dir die Kasse auf, ich mach auf, hier!« Die metallene Schublade fährt klappernd nach vorne. Einhändig greift der Junge hinein, holt ein Bündel Scheine heraus, dann klirrt es, Münzen fliegen durch den Raum. »Willst du mich bescheißen? Wo ist die Dose? Die Dose mit all deiner Knete, rück sie raus, verdammte Scheiße!« Nâzıms Gesicht verzerrt sich, Leonie möchte ihn schütteln. Weinend zeigt er auf die Schublade: »Hier, das ist alles!« Die Turnschuhfüße stampfen auf. »Du lügst, ich weiß es, ich weiß es von Murat, her damit, ich brauch die verdammte Dose!« Eine Hand langt herunter und greift nach der Flasche, fummelt am Schraubverschluß, dreht hektisch. Der Deckel rollt über die Fliesen unter ein Regal voll Pasta und italienischen Keksen. »Jetzt werd ich dir’s zeigen, ich werd’s euch allen zeigen! Rührt euch nicht, ich knall euch ab!«
    Fensterputzen, denkt Leonie. Frau Kienzle kommt zum Fensterputzen. Der hellblaue Lappen, das gelbe Fensterleder, die grüne Spiritusflasche. Der Junge schüttet den Flascheninhalt über die Theke, die Obstkörbe und Kisten. Er tut es mit leichter Hand, wie eine Hausfrau beim Wäscheeinsprenkeln, bewegt die Flasche in zitternden Bögen. Es gluckert hell, vereinzelte Tropfen treffen auch ihr Haar, ihr Gesicht. Nâzım steht in einer Lache, seinGesicht ist starr vor Angst. Die Flasche fällt zu Boden. Dann ist der Junge nur noch ein schwarzer Schatten hinter dem Holzperlenvorhang, der den Verkaufsraum vom Hinterzimmer abtrennt. Er drückt ab. Aus der schwarzen Mündung

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