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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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gläserne Drehtür drückte sie ins Innere. Hanna eilte an einem Schilderwald vorbei: Orthopädie, Onkologie, Notfallambulanz. Teddys und bunte Autos klebten an Wänden und Türen, Mobiles baumelten von der Decke, auf Postern grinsten Tigerenten.
    Mattis’ Kopf hing herab, das blonde Haar war dunkel von Schweiß. Er hatte die Augen geschlossen. Eine Krankenschwester im hellblauen Kittel kam den Gang entlang. »Frau Bodenwerder, schon wieder hier? Der arme Mattis!« Gegen die Wand gedrückt, beobachtete Judith die ablaufende Routine, die sicheren Griffe, mit denen Mattis auf eine mit Papiertüchern bedeckte Liege gebettet wurde. Sie fühlte sich ungeheuer erleichtert, ihn nicht mehr auf Hannas Arm zu sehen. Die Großpackungen mit Medikamenten und Latexhandschuhen auf dem Regal über der Liege,die nierenförmige Pappschale, die Mattis zum Erbrechen angeboten wurde, flößten ihr plötzlich Zuversicht ein. »Der Doktor kommt gleich.« Die Schwester und Hanna waren sehr vertraut. Über den Liegenden gebeugt, der jetzt nicht mehr erbrach, flüsterten sie miteinander. Die Schwester umarmte Hanna kurz. »Sie Tapfere.«
    Der Arzt betrat das Zimmer nur wenige Minuten nach ihrer Ankunft. Sie erkannte ihn sofort. Er trug keinen weißen Kittel, sondern Jeans und ein kariertes Hemd. Sein Kinn war unrasiert. Mit raschen Schritten trat er an die Liege, nahm die blaumarmorierten Hände des kleinen Jungen in die seinen. »So Kollege, was machst du für Sachen, daß du schon wieder hier bist? Kennst du Bob, den Baumeister? Der alles wieder heil macht?« Er zeigte auf den Anstecker an seiner Knopfleiste. Judith kannte den knolligen Gesellen in Arbeitshosen. Neulich hatte Kilian bei einem Marktbesuch vor einem überlebensgroßen Bob im Schaufenster von Spielwaren Kurtz gestanden: »Mama, wer isch das?« Judith verweigerte ihm die richtige Antwort: »Irgendein Männle.«
    Jetzt nahm Sören, Dr. Sören Rönne stand auf seinem Namensschild, es gab tatsächlich keinen Zweifel, dieses Männle ab und drückte es Mattis in die Hand. »Bob ist mein Kollege. Der und ich, wir reparieren dich wieder. Wir müssen nur genau schauen, was dir fehlt. Deshalb fährt dich die Frau Urban jetzt im Rollstuhl runter zur Sonographie. Das kennst du ja schon. Ich komme gleich hinterher.« Mattis sah die Plastikfigur nicht an. Er schloß die Augen und drehte sich weg. Sören nickte der Schwester zu. Gemeinsam hoben sie Mattis von der Liege in den Rollstuhl. Sören öffnete die Tür, das Gefährt setzte sich in Bewegung. Sie fuhren den Gang hinunter und verschwanden in einem Aufzug. Inzwischen waren weitere Krankenschwestern ins Zimmer getreten und scharten sich um Hanna, die plötzlich laut geworden war: »Ich muß mit meinem Sohn mitgehen. Lassen Sie mich durch! Erbraucht mich!« Sören wandte den Blick und sah Judith an, in die Augen, dann sofort auf die Brust unter dem karamelbraunen Pullover. Sie hatte die Augen weit geöffnet, denn nur das fortwährende Lesen des kleinen Plastikschildes – Dr. Sören Rönne, Stationsarzt – konnte Judith überzeugen, daß er es wirklich war. Es blieb realer als seine ganze Erscheinung, die etwas Geisterhaftes hatte, denn Sörens Gesicht sah so jung aus, der Student von damals. Er trug dieselbe Brille, ein aufdringlich blitzendes Metallgestell. Unter seinen Augen saßen dunkle Ringe, aber er hatte keine Falten, keine grauen Haare. Der blonde Bürstenschnitt war dicht und stachelig. Judith spürte die Nacktheit ihres ungeschminkten Gesichts. Sie wußte, daß die Haut an Augen und Hals mürbe und eingekerbt, daß ihr Haar getönt war und man das auch sah, besonders ein Mann wie Sören. Der sah auch die häßliche Jacke mit den Lederflicken an den Ellbogen, die schmutzigen Gummistiefel. Das einzig Gute war der v-förmig ausgeschnittene Pullover, der zartes Fleisch zeigte. Zart, aber nicht mehr fest und glatt. Das Neonlicht machte alt. Sie fühlte sich verwelkt und kraftlos. Wie lange hat sie ihn nicht mehr gesehen? Gerhard Schröder wurde Kanzler und George Bush junior Präsident der Vereinigten Staaten, die Twin Towers brannten und stürzten, Saddam Hussein wurde hingerichtet und Angela Merkel Bundeskanzlerin. Die Landwirte pflanzten Raps, die Bäcker buken Biobrot, der Ölpreis stieg, und durch die Tür trat Dr. Sören Rönne auf Judith Rapp zu, und sie erkannten einander sofort.
    Oft hatte sie innegehalten, weil sie glaubte, ihn zu sehen: Bei einem Spaziergang über den Schloßplatz, wenn sein Hinterkopf aus der Menge der

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