Kürzere Tage
zwischen den mächtigen Sandsteinsäulen des Königsbaus flanierenden Einkäufer hervorstach. In der Straßenbahn, wenn sie plötzlich seine Stimme hörte, die zwei Reihen hinter ihr über die Spielleistung des VfB schwadronierte. In der Warteschlange vor dem Teehaus, wenn eine schattengeschwärzteGestalt im Gegenlicht zwischen den sonnenglühenden Rosenbeeten und mit flüssigem Metall gefüllten viereckigen Teichen erschien, in jeder Hand ein Glas Latte macchiato. Über die dunklen Locken des Latte-Trinkers war Judith so erleichtert gewesen, daß sie Uli und Kilian den Kauf eines Wassereises gestattet hatte.
Hinter ihrer Sonnenbrille hatte sie das Spielchen weitergespielt. Was hättest du getan, wenn er es gewesen wäre? Vielleicht die Kinder vorgeführt, mit der prahlenden Sicherheit der Besitzenden, denn sie war überzeugt, daß er keine hatte. Vielleicht die eigene Haut zu Markte getragen, in der sie sich an diesem Sommernachmittag sicher gefühlt hatte. Sie war kein paillettenbesticktes, Döner kotzendes Hackstraßenflittchen mehr, sondern Frau Rapp mit Ring. Ansonsten kam Klaus in diesen Überlegungen nicht weiter vor. Er kann sie nicht zurückpfeifen: »Laß doch das Arschloch.« Sie steht auf und geht in Richtung Kiosk, denn Sören wollte Kaffee. Er hatte sie aus dem Behandlungszimmer geschoben: »Diesmal haust du nicht ab. Das ist mein letzter Fall für heute. Geh runter ins Foyer, kauf mir einen Kaffee, mit viel Milch und Zucker. Du weißt es ja noch, oder? Ich bin bald fertig.«
Judith sah sich nach Hanna um, die von mehreren Schwestern umringt an der Wand stand. Weiße und hellblaue Kittel, dunkle, blonde und graumelierte Haarschöpfe bildeten eine lebendige Mauer, die sie nicht durchdringen konnte. »Ich muß zu meinem Sohn! Ich muß bei ihm sein! Wo haben Sie ihn hingebracht?« Ihre Stimme drang gellend durch das beschwichtigende Gemurmel. Judith sah ihr kleines Gesicht unter dem samtigen Haarband. Die duldsame Ruhe war verschwunden. Hannas Mund, der so zaghaft den Rand von Judiths Teetasse umfaßt hatte, dann leise sprach, »Ja, das sagen viele, daß die Mutter das meiste leistet«, war aufgerissen. »Seid ihr verwandt?« fragte Sören. »Nein, sie ist meine Nachbarin. Ich habe Mattis und sie hergefahren.« »Es istbesser, du gehst jetzt. Wir haben alles im Griff.« Sören zog sie auf den Gang hinaus. Sie spürte die Wärme seiner Hand. Dann wandte er sich der Schwesterngruppe zu, die auf Hanna einredete. Arme und Köpfe drehten und wendeten sich, Hände streckten sich aus wie Fächer. Judith mußte an Eurythmie denken. Hanna stand inmitten der anmutigen Gestalten, ihre Bewegungen waren nicht im Fluß, sondern zackig und unausgewogen. Auf dem Gang sah sie noch, wie Sören Hanna den Arm um die Schulter legte und sie an der Empfangs-Theke vorbei in das Schwesternzimmer dirigierte. Die Tür wurde mit Nachdruck geschlossen, und Judith betrachtete lange das Schild »Bitte auf keinen Fall stören! Übergabe!«, den rosa leuchtenden Salzkristall auf der Theke, den Asternstrauß daneben, die Kinderbilder an der Wand: »Für Station 12 von Graziella, von Kim, von Mustafa«.
Im Kiosk ist es voll. Es sind hauptsächlich Frauen, die an der Kasse warten. Die meisten sehen müde und vernachlässigt aus. Alle tragen Freizeitkleidung und Hausschuhe. Judith läßt sich zwei Cappuccino geben. Ihre Finger umfassen die vollen Pappbecher, schmerzhaft dringt die Hitze durch. Ich möchte raus. Ich muß unbedingt eine rauchen. Judith versenkt die Fäuste in den Taschen der Gartenjacke und spürt die zusammengeknüllte Pakkung Rothändle. Sie wird sich neben den Eingang stellen, zu dieser Bronzeskulptur. Gänse sind es und ein Flötenspieler. Schon wieder Tiere. Es gibt zu viele Tiere in diesem Haus. Sie wird sich zuqualmen, damit sie nichts mehr sehen muß von dem ganzen Theater hier. Nur noch Sören, der den dünnen grauen Vorhang mit seinem Blick teilt. Augen wie bläuliche Nebelscheinwerfer. Er hat mich angesehen und alles gewußt. Neben dem Zigarettenpäckchen fühlt sie die emaillierte Schutzhülle der Streichholzschachtel, ein buntes Seepferdchen ist darauf. Sie hat die Laternen der Kinder damit angezündet, vor langer Zeit, auf der Constantinstraße. Jetzt wird sie sich eine anstecken. Kein Versteckspielmehr, die Hand mit der Zippe locker auf der Hüfte abgestützt, cool wie Anita Berber.
Die Drehtür kreist und befördert wie ein unermüdliches gläsernes Schaufelrad immer neue Menschen aus der Dunkelheit in das
Weitere Kostenlose Bücher