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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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mit dem Imbiß auf die Erde. Die Äpfel kullerten durcheinander. Bei Posselts stand die Glastür zum Wohnzimmer offen, schwankte leicht hin und her. Im Flur hinten brannte Licht. Judith drückte die Tür ganz auf und rief hinein: »Frau Posselt, ich lass’ die Buben kurz im Gärtle! Eine Freundin braucht Hilfe, ihr Kind muß ins Krankenhaus!« Eine Antwort hatte sie nicht abgewartet. Die Alten würden schon dasein, sie waren immer da, unverrückbar wie Statuen. Schlamper kläffte irgendwo in den hinteren Räumen kurz auf. Wahrscheinlich waren sie gerade beim Essen. Die Krallen des Hundes klapperten über das Parkett. Judith rannte zurück auf die Constantinstraße.
    » Ane, ane !« ruft der kleine Junge und strebt auf seine Mutter zu, die zusammen mit drei anderen Frauen mit Kopftüchern und langen Mänteln an einem der Fenstertische sitzt. Wie in einer Choreographie greifen alle vier gleichzeitig mit ringgeschmückten Händen in die vor ihnen stehenden Tupperdosen, angeln süßes Blätterteiggebäck, Fleischbällchen, Weißbrot heraus und halten es dem herantappenden Kind entgegen, das gierig zu essen beginnt. Judith wendet sich ab, denn die Hackstraße kommt zurück: zerknüllte Servietten mit penetrant riechendenDönerresten unter ihrer Schlafcouch, das eigene Erbrochene als Pfütze daneben. Zuvor der vorwurfsvolle Blick des türkischen Imbißverkäufers, als sie, schwankend auf Stilettos, vor Sörens Augen nacheinander vier wie Minimumien in hellbraunes Papier gewickelte Jägermeisterfläschchen austrank. Gleichzeitig denkt sie an ihre eigenen Kinder, deren braunrötliche Frischluftgesichter wahrscheinlich gerade im überheizten Wohnzimmer der Posselts erbleichen. Sie verleiben sich gierig weiche Kekse mit Orangenfüllung ein, egal, wie muffig sie schmecken, nur, um die verbotene Süße billigen Industriezuckers zu genießen. Sie gießen eiskalten Zitronensprudel hinterher, bis ihre Mägen vollständig verklebt sind. Judith weiß, daß beide die Nacht mit dicken, vorgewölbten Oberbäuchen, ranzigem Aufstoßen und zittriger Blässe über den Bettrand hängend verbringen. Stündliche Gaben von Carbo vegetabilis und Magnesium carbonicum werden nötig sein. Es ist jetzt sowieso zu spät. Sie werden nicht daran sterben. Klaus wird sie abholen. Ich komme irgendwann, aber nicht jetzt. Wahrscheinlich erst viel später. Sie starrt weiter auf die Aufzugtüren.
    Schon zweimal hat sie versucht, Klaus zu erreichen, damit er seine Sitzung, diese abendfüllende Donnerstagssitzung, früher abbricht. Er soll die Jungen da rausholen. Das ist doch eine Aufgabe für einen Vater. Noch einmal stellt sie sich in die mit teppichbodenartigem Stoff ausgekleidete Bucht, in der der Münzfernsprecher hängt. Der Hörer riecht fremd und fühlt sich fettig an. Sie wirft Kleingeld ein und hört Klaus’ ruhige Stimme auf der Mailbox: »Eine Nachricht kann nach dem Signalton hinterlassen werden.« Die Nummer des Fachbereichbüros kann sie auswendig. Die Sekretärin nimmt nach dem ersten Läuten ab und erklärt Judith, daß Klaus schon lange fort sei. Die Sitzung, die sie meine, sei immer vormittags. Nur kurz denkt sie an Klaus, der sie heute morgen angelächelt hat, die blonden Locken noch feucht vom Duschen, das hellgrüne Hemd viel zu frühlingshaft für einenOktobermorgen: »Vergiß nicht, daß ich heute abend später komme, die elende Verwaltungssitzung!« Seit wann gab es sie schon, diese lästige, aber nicht zu ändernde Vorschrift aus dem Dekanat? Ein halbes Jahr, länger? Judith schüttelt den Kopf, dann bespricht sie die Mailbox: »Klaus, ich bin im Olgäle, mit Hanna und Mattis. Es gab ein Unglück. Hol bitte schnell die Kinder bei Frau Posselt ab, ich muß noch hierbleiben. Es kann spät werden.«
    Hanna hatte Judith durch den abendlichen Berufsverkehr gelotst. Laut und sicher kam ihre Stimme vom Rücksitz, übertönte die schrecklichen Würgelaute und das Gewimmer des Jungen. Mattis’ Atemzüge gingen so schnell, daß Judith aufgehört hatte, zu zählen. Sie schwitzte, ihre Hände packten das Lenkrad fester. »Bei der nächsten Ampel links abbiegen.« Vor dem Krankenhaus dirigierte Hanna sie rechts in die Hasenbergstraße, direkt ins Parkverbot. »Das Parkhaus hält uns zu lange auf.« Sie trug Mattis auf den Armen: eine bebrillte Piet´a mit ihrem winzigen Christusleichnam, gestorben an der Kotzerei, bevor er gekreuzigt werden konnte. So lief sie an der Pforte vorbei, kannte den Weg ganz genau, Judith folgte im Laufschritt, die

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