Kürzere Tage
bröckeliges Häufchen, direkt neben den Kinderbeeten. Mit zwei Spatenstichen hob sie ein Loch aus und verscharrte die Hinterlassenschaften Schlampers. Wer sollte es sonst gewesen sein. Es darf nicht einreißen, daß sie jetzt unseren Garten als Hundeklo benutzen, weil sie es nicht mehr schaffen, mit dem Vieh spazierenzugehen. Judith klopfte die Erde fest. Die Jungen waren im Gebüsch verschwunden, begleitet vom huschenden Schein ihrer Taschenlampen. Jubelnd tauchten sie in eine Dunkelheit ein, die nicht annähernd so undurchdringlich war wie die schnittfeste Finsternis im unbeleuchteten Wäldchen von Judiths Kirchheimer Kindheit. Die dichte violette Abenddämmerung über dem schmalen Gartenstück zwischen Constantin- und Olgastraße wurde vielfach durchlöchert von den gelblich strahlenden Vierecken aus den Häusern ringsum, dem orange eingetönten Weiß der Straßenbeleuchtung und den träge gleitenden Lichtbahnen vorüberziehender Autoscheinwerfer. Judith hatte es nicht übers Herz gebracht, Kilian und Ulrich zurückzupfeifen. Eigentlich sollte es in wenigen Minuten zum Abendbrot gehen. Doch heute gestattete sie eine Abweichung. Sie wollte ihnen das Abenteuer im dunklen Garten schenken: die Hand auf dem schartigen Stamm des Apfelbaums, den man nicht mehr richtig sehen, aber plötzlich fühlen und riechen kann. Wie ist es, wenn die Nacht dich verschluckt und du dabei die Hand des Bruders halten kannst, wenn du vielleicht ein Käuzchen hörst oder eine Fledermaus? Es gab beides im Gärtle, denn Judith hatte im ›Haus des Waldes‹ in Degerloch spezielle Nistkästen besorgt und aufgehängt. Sie fühlte sich befriedigt und vollständig anwesend. Dieses seltene Wohlbehagen, das sich immer nur einstellte, wenn ein Ausschnitt ihres Lebens aussah und sich anfühlte wie auf einemHans-Thoma-Bild, wollte sie genießen, allein, ohne Hanna und Mattis.
Dann brach Mattis in die Knie, niedergestreckt wie von einem Schuß aus der Dunkelheit. Seine Hand glitt aus Hannas Griff. Er krümmte sich nach vorne und würgte, wälzte sich auf dem Boden, nur wenige Meter vor Judiths erdverschmierten Gummistiefeln. Das Zeug, das aus seinem Mund kam, war schaumig und gelb. Judith schrie auf und preßte die Hand gegen die eigenen Lippen. Hanna ließ ihre Einkäufe und Mattis’ Kinderrucksack fallen. Spitze braune Obsttüten purzelten aus dem Baumwollbeutel. Unter ihrem Poncho riß sie einen Schlüsselbund hervor, mit dem sie an der Reihe der parkenden Autos entlang bis zu ihrem rostfleckigen, giftgrünen Renault rannte. Sie öffnete die Tür, klappte den Beifahrersitz nach vorne und war schon wieder bei dem würgenden Mattis, den sie hochhob, als wäre er ohne jedes Gewicht. Judith sah mit Entsetzen seine Hände, die an den schmalen Kehlkopf fuhren und dort zu kratzen begannen. Hanna trat auf Judith zu. Ihr Atem war heiß und roch schlecht. »Du mußt uns ins Olgäle fahren, das sind die einzigen, die uns helfen können. Ich kann nicht ans Steuer, er braucht mich neben sich.« Ihre Stimme klang überraschend laut und einschüchternd. »Aber, ein Krankenwagen, ich könnte einen rufen«, stammelte Judith. Mattis wand sich unter dem schwarzen Gurt, den Hanna ihm über die Brust gelegt hatte, er hing in dem an einer Seite aufgeplatzten, bunten Kindersitz, geschüttelt von krampfartigen Brechanfällen. Weiße Kunstwolle quoll aus dem Riß im Polster neben Mattis’ Kopf, und Judith fuhr zurück, als sie in den aufgerissenen Augen ebenfalls nur Weiß sah. Dann kam ein trockenes Würgen. Hanna hatte sich bereits neben ihren Sohn gezwängt. Ihre unscheinbare Mäuschenhaftigkeit war kraftvoller Bestimmtheit gewichen. »Das ist eine typische Reaktion bei ihm. Wahrscheinlich hat er wieder etwas in der Kita nicht vertragen. Ichhabe schon so oft gesagt, daß er gegen Nüsse allergisch ist, gegen alle Milchprodukte, gegen Weizen, aber sie passen einfach nicht auf. Wir kennen das schon, nicht wahr, mein Armes? Du bist mein ganz Armes.« Und Judith, in der Hand den Schlüsselbund, der Hannas Körperwärme abstrahlte, nickte mechanisch, drehte sich aber noch mal um. »Ich muß den Kindern Bescheid sagen, wart kurz, ich bin sofort bei euch.«
Die beiden Lampions schaukelten im schwarzen Geäst. Die Jungen hatten den Sandkasten abgedeckt, zwei Schaufeln steckten in einem hastig aufgeworfenen Hügel, sie sah Fußspuren. Aus dem Häusle kam Geklapper, Kichern, irrlichternde Taschenlampenstrahlen. Judith beschloß, sie nicht zu stören. Hart setzte sie den Korb
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