Küss den Wolf
obersten Stufe der Leiter angelangt. Dort setzte sie sich hin und ließ ihre Ringelbeine baumeln, während das brüchige Holz des Tritts unter ihr knarzend in sich zusammenbrach. »Oh, das tut mir leid«, rief Holla und klang ehrlich zerknirscht. »Ich weiß, dass dein Vater die Leiter und das alles hier extra für dich gebaut hat.«
Mir brach der Schweiß aus. Woher wusste Holla von meinem Vater? Und hatte sich das auf ihrem Rücken wirklich so angefühlt, wie… wie… ich wagte kaum, den Gedanken zu Ende zu denken… Flügel?!?
Wahrscheinlich war ich einfach immer noch total zugedröhnt. Wie konnte ich sonst plötzlich einer Waldfee namens Holla begegnen, die offenbar im Baumhaus meiner Kindheit wohnte…
Ein gewaltiges Donnern erschütterte auf einmal den Wald, am Nachthimmel zuckten gleißend helle Blitze und schossen wie Pfeile durch die Dunkelheit. »Scheint so, dass wir gleich ein ordentliches Gewitter bekommen«, sagte Holla und reckte ihr hübsches Gesichtchen nach oben. »Ich würde vorschlagen, dass du jetzt deine Girls weckst und ihr so schnell wie möglich zu deiner Großmutter lauft. Ich selbst bin müde und lege mich jetzt hin. Gute Nacht, Pippa-Rosina. Schlaf gut und hab schöne Träume.«
Pippa-Rosina?!? Das wurde ja immer unheimlicher.
Keiner außer meiner Familie kannte diesen zweiten blöden Vornamen, den meine Mutter mir in einem Anfall von ich-weiß-nicht-was gegeben hatte, ohne dass Jacques sie daran hindern konnte. Doch ich hatte keine Zeit, mir weiter Gedanken darüber zu machen. Das Wichtigste war jetzt erst einmal, Tinka, Jenny und Lula zu wecken. Da die drei weder auf mein Rufen noch auf Rütteln und Schütteln reagierten, blieb mir schließlich nur noch eines übrig: Ich nahm zwei Flaschen Mineralwasser aus der Kühltasche, öffnete sie und goss den Schlafenden den Inhalt ins Gesicht. »Sag mal, spinnst du?«, fauchte Lula, die als Erste wach wurde. Zum Glück begriff sie relativ schnell, warum ich sie aufwecken musste. Das Gewitter war bereits bedrohlich nahe und würde uns bald erreicht haben. Mit vereinten Kräften gelang es uns, auch die beiden anderen zu wecken und das Nötigste zusammenzuraffen, um es im Waldhaus in Sicherheit zu bringen. Max war leider immer noch nicht aufgetaucht. Ich hoffte sehr, dass er so klug war, sich in irgendeiner Höhle zu verkriechen. Schlaftrunken wie Tinka war, bemerkte sie sein Fehlen zum Glück nicht. Noch nicht.
»Da seid ihr ja«, rief Theodora, die in ihrem bodenlangen weißen Spitzennachthemd aussah wie ein Gespenst, und öffnete die Terrassentür, um uns hereinzulassen. Es fehlte nur noch ein altmodischer Kerzenhalter aus Messing, um das Gesamtbild abzurunden. »Kommt schnell rein, ihr werdet sonst noch pitschnass!« Mit Großmutters Hilfe bauten wir uns im Wohnzimmer ein halbwegs gemütliches Nest. Unsere Schlafsäcke konnten die Härte des alten Dielenbodens allerdings kaum ausgleichen. Doch wir waren so müde, dass uns sofort die Augen zufielen. In unserem Zustand wären wir wohl überall eingeschlummert, auch wenn der Schlaf zumindest in meinem Fall nicht besonders erholsam war. Durch meine wilden bunten Träume geisterten nämlich zwei Gesichter, die merkwürdige Grimassen schnitten: das von Leo – und das von Holla. Sie schoben sich immer wieder übereinander und verschmolzen zu einer Einheit. Dann lösten sie sich erneut, lachten wie irre und streckten mir schließlich sogar die Zunge heraus…
»Aufstehen, ihr Schlafmützen! Es ist schon später Nachmittag«, ertönte Theodoras Stimme von weit, weit weg. »Will jemand Kaffee oder soll ich lieber gleich eine Runde Kopfschmerztabletten spendieren?«
»Aspirin«, stöhnte es direkt neben mir – Tinka.
»Dreifacher Espresso und Zitrone«, von der anderen Seite – Jenny. »Lasst mich einfach sterben…« – Lula.
»Euer Girls-Camp scheint ja ein voller Erfolg gewesen zu sein«, lachte Theodora und stellte ein Tablett mit dampfendem Kaffee, einer Blisterpackung Tabletten, frisch gepresstem Orangensaft und knusprigen Croissants auf den Wohnzimmertisch. Als ich aus dem Schlafsack kroch, merkte ich, dass es im Raum ziemlich kühl war. Offenbar hatte es nach dem Gewitter einen erheblichen Temperatursturz gegeben. Ich murmelte: »Danke, Oma«, nahm einen Becher Kaffee vom Tablett und versuchte, mich aufrecht hinzusetzen. Doch irgendwie schien mir mein Körper heute nicht so recht gehorchen zu wollen, außerdem fröstelte ich. »Klingt zwar ein bisschen komisch nach der Hitze von
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