Küss den Wolf
sitzen und gemeinsam mit ihr alte Fotoalben anzuschauen, die den melancholischen Duft der Vergangenheit verströmten und meinen Großvater in unterschiedlichen Rollen auf den bedeutendsten Bühnen der deutschsprachigen Theaterwelt zeigten.
Nachdem Theodora gegangen war, fiel mir wieder Tinkas Mitbringsel ein. Vielleicht konnten die Magic Mushrooms meinen Herzschmerz ein wenig lindern und auch Lula auf andere Gedanken bringen? Der Bruch mit Ben hatte ihr offenbar wirklich zugesetzt. Ihr farbenfrohes Outfit konnte kein bisschen darüber hinwegtäuschen, dass die sonst so fröhliche Lula heute nicht wirklich sie selbst war.
»Also, Tinka, dann hol doch mal deine Schrumpel-Pilze raus«, forderte ich, obwohl ich gleichzeitig ein ziemliches Kribbeln im Bauch verspürte.
»Schrumpel-Pilze?«, echoten Jenny und Lula und schauten äußerst überrascht, als Tinka die Schachtel öffnete und ihren Schatz präsentierte: »Das sind sogenannte spitzkegelige Kahlköpfe«, erklärte sie uns mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan, als sich mit so was zu beschäftigen. »Sie gehören zu den psilocybinhaltigen Pilzen, auch kurz Psilos genannt, wachsen hier in Deutschland und verursachen laut Johnny D einen ähnlichen Bewusstseinszustand wie LSD, nur dass der Trip nicht so lange dauert.«
Jenny guckte skeptisch. »Wie kommt Johnny eigentlich dazu, uns so was für die Party mitzugeben?«, wollte sie wissen. »Ein Typ, der in der Clubszene haufenweise mit solchem Zeugs in Kontakt kommt, verträgt das doch bestimmt tausendmal besser als wir, die schon nach zwei Gläsern Prosecco auf dem Tisch tanzen. Nee, lass mal stecken! Auf so eine Erfahrung kann ich gut verzichten!« Auch Lula verzog angewidert das Gesicht, aber ich konnte sehen, wie es in ihr arbeitete.
»Also ich vertraue Johnny«, entgegnete Tinka und zerrieb einen der Pilze zwischen ihren Fingern. »Schließlich weiß er genau, welche Verantwortung er der Cousine seines Freundes gegenüber hat. Außerdem: was soll schon groß passieren? Wir sitzen hier gemütlich im Wald, haben ein Zelt mit kuscheligen Schlafsäcken, müssen nirgendwo mehr hin und sind jung. Ich meine, hey – wann probiert man denn so was aus, wenn nicht jetzt?«
»Auch wieder wahr«, murmelte Jenny.
»Ich bin dabei!«, beschloss nun auch Lula.
Zwei Seelen stritten sich in meiner Brust. Die mutigere von beiden gewann. Schon kurze Zeit später drehte sich alles um mich herum. Die Baumkronen verwuchsen zu einer undurchdringlichen Dornenhecke, der bemooste Waldboden schlug erst Wellen, bevor er sich mir komplett entgegenwölbte. Winzige Lichter hüpften über die Lichtung und blinkten wie wild durcheinander.
Das Zwitschern der Vögel klang plötzlich wie der Sound von Rammstein und die Girls sahen mit einem Mal aus, als seien sie einem Pop-Art-Clip von Andy Warhol entsprungen. Und ihre Stimmen klangen so hoch und dünn, als hätten sie Helium inhaliert.
Bunte Kreise drehten sich um mich und die Girls, sodass alles zu einer kunterbunten Einheit verschmolz. Jede ihrer Gesten wirkte überdimensional groß und sah aus wie in einem Comic.
Max mutierte auf einmal zu einem Riesenschnauzer mit Barthaaren wie ein Walross und Pfoten, die zu viel groß für den Rest seines Hundekörpers waren.
Plötzlich empfand ich eine tiefe, beinahe grenzenlose Liebe zu allem, was mich umgab: dem Käfer, der mit seinem schillernden schwarzgrünen Panzer über meinen nackten Fuß krabbelte, der Mücke, die surrend mein Ohrläppchen umkreiste, als wolle sie mir eine Liebeserklärung zuflüstern.
Den neben mir blühenden Himmelschlüsselchen, deren zarte gelbe Blütenblätter der Eingang zu einer magischen Zauberwelt zu sein schienen…
Inmitten diese unglaubliche, überwältigende Erfahrung, in der alles mit allem verbunden war, mischte sich ein sphärischer Klang, auf den ich so lange gewartet hatte: der Klingelton meines Handys.
Anrufer: unbekannt…
6.
Sonntagnacht, 2. April
»Ey, du siehst total kacke aus. Was ist passiert? Hattest du einen bad trip?« Müde und erschöpft rieb ich meine Augen, die so verklebt waren, dass ich Mühe hatte, sie zu öffnen. Ich blinzelte ins Halbdunkel: Vor mir stand – im fahlen Licht des sichelförmigen Mondes – ein Mädchen, das zwar wunderschön, aber ziemlich ungewöhnlich aussah: Es trug einen knallroten Minirock mit schwarzem Rosenmuster, eine lila-grün geringelte Strumpfhose mit Lederflicken an den Knien und ein bauchfreies
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