ich den Artikel umgeschrieben hatte, tat ich etwas, das ich noch nie zuvor getan hatte.
»Nanu? Seit wann legst du denn Wert auf meine Meinung?«, fragte Verena, als ich ihr den Ausdruck meiner Kritik unter die Nase hielt. Ich wollte ihn später an Marc mailen und musste auf jeden Fall verhindern, dass er auch nur den kleinsten Fehler – und sei es ein falsch gesetztes Komma – darin entdecken konnte. Meine Mutter schob ihre Lesebrille auf dem Nasenrücken hin und her und zwirbelte sich eine Haarsträhne um den Finger. Dann murmelte sie etwas, das nach »Sehr schön« klang, und las die Kritik ein zweites Mal. Ich fühlte mich währenddessen wie eine Angeklagte, die auf den Urteilsspruch des Richters wartete. Folgte nun als Strafe ein lebenslänglich an Marc Jensen gekettet? Uaaaahh…
Wie sich herausstellte, hatte ich mit meiner Befürchtung nicht ganz unrecht: Keine zehn Minuten, nachdem ich den Text an Marc geschickt hatte, kam auch schon seine Antwort:
Von: Marc.
[email protected] An:
[email protected] Betreff: Red Riding Hood
Liebe Pippa,
es freut mich sehr, dass du meine (konstruktiv gemeinte) Kritik angenommen hast! Ich bin total begeistert von deiner Rezension und werde sie unverändert in der neuen Ausgabe des H-Mag bringen. Kompliment, du bist auf dem richtigen Weg!
Ich wünsche dir einen schönen Rest-Sonntag und freue mich auf unsere nächste Redaktionssitzung.
All the best
Marc
P. S: War das gestern dein fester Freund?!!!!????
Ich las die Mail insgesamt dreimal, weil ich es kaum glauben konnte. Schreibgott Marc Jensen persönlich hatte mir sein Lob ausgesprochen und würde meine Kritik exakt so, wie sie war, drucken?
»Da staunste, was?«, rief Holla. (Huch, wo kam die denn jetzt schon weder her?) Triumphierend stolzierte sie in meinem Zimmer auf und ab, als sei sie auf einem Laufsteg. »Marc ist nämlich gar nicht so blöd und arrogant, wie du immer behauptest.« Ich schluckte. Sollte ich Marc aus verletzter Eitelkeit womöglich unrecht getan haben? Gestern war er ja schließlich auch sehr nett gewesen – bis auf die Tatsache, dass er mein Date zerstört hatte.
Du bist auf dem richtigen Weg klang aber immer noch ziemlich von oben herab, oder?
Und dann war da auch noch dieses mysteriöse P. S.…
»Wieso will Marc eigentlich wissen, ob Leo mein Freund ist?«, fragte ich mehr mich selbst als Holla. Die Waldfee betrachtete gerade die Bücher in meinem Regal und schien ganz versunken. Ihr dunkles Haar lag wie ein seidig schimmerndes Tuch über ihrem Rücken, nur die Ohren lugten daraus hervor. Ihre Flügel sahen aus wie die einer Libelle. Ich betrachtete sie weiter und kniff dann die Augen zusammen, weil ich es nicht glauben konnte: War Holla etwa um ein paar Ecken mit Mister Spock verwandt?
»Schon mal über eine Schönheits-OP nachgedacht?«, hörte ich mich plötzlich fragen und bereute meine Frage sofort.
»Magst du meine Ohren nicht?«, fragte Holla, ohne sich umzudrehen. Ihre kleinen, schmalen Finger fuhren über die Buchrücken, mittlerweile war sie in der Abteilung Thriller angelangt. »Ich mag sie ehrlich gesagt auch nicht«, seufzte sie und drehte sich schließlich zu mir um. »Aber es nützt ja nichts. Gott hat sie mir gegeben, also lebe ich mit ihnen. Aber was ist mit dir? Gibt es etwas, was du an dir nicht leiden kannst?«
Was für eine ungewöhnliche Frage.
Ich sah an mir herunter und dachte nach. Der mittlere Zeh meines rechten Fußes war außergewöhnlich lang. Mein Haar für meinen Geschmack einen Tick zu rot, mein Bauch nicht ganz so fest und flach, wie ich ihn gern hätte.
»Dann musst du eben mehr Sit-ups machen«, sagte Holla und befühlte die Stelle, an der ich eigentlich Bauchmuskeln hätte haben sollen. »Kannst du Gedanken lesen?«, fragte ich verwirrt und trat einen Schritt zurück. Die Berührung von Hollas Händen auf meiner nackten Haut unter dem T-Shirt verursachte mir Gänsehaut.
Wer war dieses Wesen? Und was wollte es von mir?
15.
Sonntagnacht – Eine dunkle Einfahrt
Das Blaulicht des Rettungswagens erhellte die nachtdunkle Straße. Sanitäter trugen eine Bahre und verfrachteten sie in das Innere des Autos. Nachbarn standen vor dem Eingang, hielten geschockt die Hand vor dem Mund oder diskutierten lebhaft.
Wortfetzen drangen an sein Ohr.
Wortfetzen wie »Was meinst du, wird er es überleben?«
Oder »Wie konnte das nur passieren? Der arme alte Mann!«
Oder auch: »Ich hab es ihm gesagt, er hätte gleich zur Polizei gehen sollen.«
Er