Küss den Wolf
erneut hinter der Zeitung. »Ich werde jetzt mal meine Filmkritik zu Red Riding Hood schreiben«, sagte ich und stand vorsichtig auf, um Martini nicht zu wecken. Doch diese Katze war ein absolutes Phänomen: Einmal eingeschlafen, brachte sie nichts mehr aus der Ruhe. Auch nicht die Tatsache, dass ich sie auf den Lesesessel in meinem Zimmer umsiedelte.
Ich schaltete den PC an, rief meinen Blog auf und starrte eine Weile auf den Monitor. In Gedanken war ich immer noch bei Großmutter, Leo und dem Wald. Hatte Verena womöglich doch recht? Sollte Oma sich wirklich besser einen Ruck geben und verkaufen? Es war ja leider nicht das erste Mal, dass sie in Geldnöten war und wir als Familie für sie einspringen mussten.
Andererseits… Ich dachte an das Märchen vom Rotkäppchen, den Wald, die Großmutter und den bösen Wolf, der schließlich alles gierig verschlungen hatte. In meinem persönlichen Märchen würde ich es auf keinen Fall zulassen, dass es Theodora schlecht ging oder ihr etwas genommen wurde, woran sie hing.
. . . dummerweise konnte ich ein Kichern manchmal kaum unterdrücken, da gerade die Szenen mit dem computeranimierten Wolf weniger Furcht einflößend bestialisch waren als eher unfreiwillig komisch. Daran konnten auch die weit aufgerissenen Kulleraugen von Amanda Seyfried nichts ändern, die tapfer versuchte, die erschrockene Gejagte zu mimen… Wer eine wirklich gute Verfilmung dieses Themas sehen möchte, dem sei Neil Jordans Kultfilm DIE ZEIT DER WÖLFE ans Herz gelegt.
»Die erschrockene Gejagte? Findest du nicht, dass das ein bisschen gestelzt klingt?«, fragte eine Stimme, die ich schon länger nicht mehr gehört und nicht im Mindesten vermisst hatte. »Du schon wieder!«, seufzte ich mit einem Blick auf Holla, die erneut bäuchlings auf meinem Bett lag, mit Blick Richtung Schreibtisch. Heute war sie für ihre Verhältnisse geradezu schlicht gekleidet, sie trug ein klatschmohn-rotes Sommerkleid und eine pinkfarbene Ranunkel im Haar. »Nun zick hier nicht rum, ich will dir bloß helfen. Du möchtest Marc Jensen doch bestimmt nicht wieder einen Anlass liefern, um dich runterzumachen, oder?« Auch wieder wahr!
»Na dann schieß mal los«, antwortete ich, woraufhin Holla aufstand und sich neben meinen Stuhl stellte. Mit zusammengekniffenen Augen las sie, was ich bis jetzt geschrieben hatte, und wirkte dabei hoch konzentriert. Oder war sie in Wahrheit nur kurzsichtig und benötigte eine Brille?! »Ich finde, du brauchst eine schmissigere Überschrift als Die mit dem Wolf tanzt! Das ist so absolut gähnschnarchabgenudelt. Fällt dir nichts Besseres ein?«
»Aber schmissiger ist ein tolles Wort, ja?«
Wurde Holla etwa rot oder strahlte nur die Farbe ihres Kleids auf sie ab? »Nun ja, ich geb’s zu. Schmissig ist in der Tat fast so blöd wie zum Beispiel…«
»Knorke?«
Holla verzog ihr Gesicht. »Knorke?!? Was soll das denn bitte schön heißen?«
»Knorke ist die altmodische Bezeichnung für voll fett oder krass – oder was auch immer du für Worte benutzt, wenn du etwas toll findest.« Holla zog einen Schmollmund: »Ich bitte dich, Pippa-Rosina, ich bin doch keine Ghetto-Fee!« Nun musste ich lachen.
»Okay, weiter im Text. Was hast du sonst noch zu meckern?«
»Ich finde, dass du mehr auf den Inhalt eingehen solltest, bevor du mit der eigentlichen Kritik loslegst«, sagte Holla und lehnte nun so dicht neben mir, dass ich ihr Parfüm riechen konnte. Sie duftete furchtbar lecker nach… was war das noch mal? Götterspeise? Genau! Waldmeister! Im Volksmund wurde das Kraut Herzensfreund genannt und hatte angeblich die Kraft, Dämonen und Hexen zu vertreiben…
»Hast du dich mit Marc abgesprochen?«, zickte ich herum, weil Hollas Duft mir ein bisschen die Sinne vernebelte. »Du sagst genau dasselbe wie er.« Die Waldfee wandte ihr Gesicht zu mir und grinste von einem Ohr zum anderen. »Tja, Marc weiß eben, wie man es richtig macht!«
»Ach verzieh dich doch, du Klugscheißerin«, zischte ich, weil mir das plötzlich alles zu viel wurde. Keine Ahnung, weshalb ich mich immer wieder auf das Zwiegespräch mit meinem Hirngespinst einließ.
Nachdem Holla sich buchstäblich in Luft aufgelöst hatte, las ich mir die Rezension ein zweites Mal durch. Und so sehr es mich auch ärgerte, das zuzugeben: Marc und Holla lagen gar nicht so verkehrt. Vielleicht konnte ich wirklich noch dazulernen. Ich meine, hey, ich war schließlich erst sechzehn und nicht als Rezensentin auf die Welt gekommen!
Nachdem
Weitere Kostenlose Bücher