Küss den Wolf
finden. »Die Polizei geht momentan davon aus, dass es sich um einen Dumme-Jungen-Streich handelt«, antwortete Amélie und kassierte ganz nebenbei das Geld für zwei Kinotickets. »Aber wer macht denn so was?«, wandte ich skeptisch ein. »Das ist doch etwas komplett anderes als zum Beispiel ein Klingelstreich oder so was. Erst recht, wenn dieser arme Mann nun in Lebensgefahr schwebt.« Doch ich kam nicht mehr dazu, mir weiter Gedanken über den Artikel und die mysteriösen Ereignisse zu machen, weil die Nachmittagsvorstellung gleich startete und ich die Karten abreißen musste.
Als ich abends nach Hause kam, checkte ich als Erstes den Anrufbeantworter, in der Hoffnung, Leo hätte eine Nachricht darauf hinterlassen. Mein Handy war wie tot, nicht mal eine Nachricht von den Maki-Girls. Doch anstelle der Stimme des Jungen, nach dem ich mich so sehr sehnte, ertönte die von Theodora. »Hallo, Schätzchen«, sagte sie und klang ausgesprochen fröhlich. »Du weißt es bestimmt schon von Leo, aber ich wollte es dir auch erzählen, dass er mich heute Nachmittag angerufen und angeboten hat, mir eine Heizung zu besorgen, bei der ich ein Drittel spare. Ist das nicht toll? Also ehrlich, Schätzchen, mit diesem jungen Mann hast du das ganz große Los gezogen, ich gratuliere.«
Ich schüttelte ungläubig den Kopf, hörte die Nachricht ein zweites Mal ab und löschte sie schließlich. Verena hatte heute Abend irgendeine Veranstaltung, also hatte ich die Wohnung für mich allein. Das war auch ganz gut so, denn meine Gefühle fuhren mal wieder Achterbahn, und da kam mir besser keiner in die Quere! Nachdem ich Martini gefüttert und die Blumen auf dem Balkon gegossen hatte, setzte ich mich aufs Sofa. Irgendwie verstand ich die Welt nicht mehr. Warum telefonierte Leo mit Oma, meldete sich aber nicht bei mir?
»Du hast ja wirklich ÜBERHAUPT keine Erfahrung mit Männern«, sagte Holla, die plötzlich auf dem Lesesessel gegenüber saß und grinste. Martini gab einen freudigen Maunzer von sich und hüpfte auf ihren Schoß, woraufhin Holla anfing, sie liebevoll zu kraulen.
»Aber du, oder was?«, pflaumte ich Holla an.
Wieso musste Martini sich eigentlich so an diese Waldfee ranschmeißen? Sie war doch sonst immer so wählerisch und brauchte ewig, bis sie mal jemand anderen als meine Mutter oder mich an sich heranließ. »Katzen lieben Feen«, erklärte Holla und ich beobachtete missmutig, wie eng Martini sich an sie schmiegte. »Das beruht übrigens auf Gegenseitigkeit. Neben Pferden, Schwänen, Raben, Hirschen und Gänsen sind Katzen unsere absoluten Lieblingstiere.«
»Ich dachte, ihr Naturgeister galoppiert immer auf Einhörnern durch die Gegend«, antwortete ich schnippisch, weil ich jetzt über mein Leo-Dilemma reden wollte, anstelle Brehms Tierleben rauf und runter zu beten. »Das machen wir eher selten«, entgegnete Holla in einem Tonfall, als sei ich drei und sie müsse mir erst einmal die Welt erklären. Arrogante Kuh! Konnte sie sich nicht endlich ein anderes Opfer suchen, das sie stalken konnte? »Einhörner sind sehr, sehr scheue Tiere, die ihre absolute Ruhe brauchen.« Ja, so wie ich auch gerade. Also: Mach endlich die Biege, Waldfee!
»Soll ich lieber gehen?«, fragte Holla spitz. Dann holte sie – vorsichtig, um Martini nicht zu stören – diesen bläulich schimmernden Stein aus der Tasche der türkisfarbenen Kittelschürze, die sie heute über einer schneeweißen Bluse trug. »Oder möchtest du lieber, dass ich Kontakt mit der Steinfee aufnehme und sie nach deinem Herzensmann befrage?«
»Die Steinfee weiß etwas über Leo?«, fragte ich mit zitternder Stimme. Oh, mein Gott, was ging denn hier wieder gerade ab?
Drehte ich jetzt völlig durch? Egal! Momentan war mir jedes Mittel recht, um zu erfahren, wie es mit Leo und mir weiterging. »Was ist das denn überhaupt für ein Stein?«, fragte ich, weil ich mich mit diesen Dingen rein gar nicht auskannte. »Darf ich mal?« Holla gab mir das kühle Schmuckstück und ich verspürte auf einmal eine unbeschreibliche Ruhe. Mein Herzschlag wurde langsamer, die Anspannung, die mich seit gestern unangenehm im Griff hatte, löste sich in Luft auf. »Das ist ein Aquamarin«, erklärte Holla und lächelte selig. »Der Name stammt aus dem Lateinischen, aqua maria, was auf Deutsch Meerwasser bedeutet. Wir Waldfeen haben eine besondere Beziehung zu Steinen mit magischen Kräften. Für mich ist dieser Aquamarin ein Schutzamulett.«
»Feen brauchen Schutz?«, fragte ich
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