Küss den Wolf
abends setzte Verena mich mit dem Mietwagen vor Omas Haustür ab. »Das war doch ein schöner Tag, nicht wahr?«, fragte sie, die Wangen noch leicht gerötet von der rauen Nordseeluft. »Und ich finde es nach wie vor richtig, dass wir Theodora nichts von dem Orkanschaden und der Einschätzung des Handwerkers erzählt haben. Sie sah wirklich erholt aus und hat sich so auf die Zeit an der See gefreut.« Doch irgendwann würden wir sie mit der Wahrheit konfrontieren müssen…
»Ja, das war sicher das Beste so. Man muss ja nicht immer alles sagen«, stimmte ich mit dem Gedanken an mein geheimes Date mit Leo zu und linste gleichzeitig ungeduldig auf die Uhr.
Je länger wir hier saßen und quatschten, desto knapper wurde die Zeit bis Mitternacht. »So, so. Man muss nicht immer alles sagen. Das werde ich mir merken«, lächelte Verena verschmitzt und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Dann mach dir einen schönen Abend und meld dich, wenn du abgeholt werden willst. Wie du weißt, habe ich das Auto noch bis Sonntagabend. Und wenn du Hilfe mit dem Dachboden brauchst, komme ich natürlich sofort vorbei. Eigentlich finde ich es gar nicht gut, dich das hier alles alleine machen zu lassen. Aber wenn du unbedingt darauf bestehst… Also mach’s gut und pass auf dich auf!« Ich gab Verena ebenfalls einen Kuss und blieb dann noch so lange in der Einfahrt stehen, bis ich sicher sein konnte, dass sie auch wirklich auf dem Heimweg war und nicht wieder umdrehte. Im Haus angekommen hielt ich mich erst gar nicht lange damit auf, meine Sachen auszupacken, sondern ging gleich weiter in den Garten und steuerte schnurstracks auf den Teich zu.
Es waren immer noch 22°, die absolut ideale Temperatur für alle Tanz-in-den-Mai-Partys, die heute Abend im Freien stattfanden. Tinka war zu einer Feier in der Zwergen-WG eingeladen, Jenny mit den Mädels aus ihrem Hockey-Club unterwegs und Lula hatte eine Verabredung mit einem Typen namens Ric, den sie in ihrem Fitness-Club kennengelernt hatte. Leo musste noch was für die Uni tun und wollte deshalb den Abend ruhig angehen lassen . Und Verena freute sich wie immer darauf, eine der Freitag-Abend-Talkshows im Fernsehen zu schauen. So war jeder auf seine Weise beschäftigt, nur meine Pläne fielen etwas aus dem Rahmen…
Ich zog meine Schuhe aus und streifte gedankenverloren durch den Garten, das zarte Gras unter meinen Fußsohlen. Wie still es hier war. Einfach himmlisch!
Aus der Ferne hörte ich den klagenden Ruf eines Käuzchens, irgendwo zirpten die ersten Grillen des Jahres und auch der eine oder andere Frosch im Teich ließ sein Quaken ertönen.
Aber so sehr ich mich auch bemühte, irgendwie Kontakt zu den Naturgeistern zu bekommen, es gelang mir nicht. Entweder war ich doch am falschen Ort oder nicht genug bei der Sache. In erster Linie solltest du das Ganze wirklich wollen, hörte ich Michaels Stimme in meinem Kopf und wünschte, er wäre jetzt bei mir. Jemand wie er bräuchte bestimmt nicht so lange, um das Tor zur Anderswelt zu finden. Mittlerweile war ich am Ende des Grundstücks angekommen und stand vor den Haselnusssträuchern. Sollte ich es wirklich wagen, ganz alleine in den Wald zu gehen? Mir wurde etwas mulmig bei der Vorstellung, aber je näher ich an den kleinen Bach herantrat, desto stärker hatte ich das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Meine Hände suchten in der Tasche der Jeansjacke nach der kleinen Taschenlampe, die ich heute Morgen extra eingesteckt hatte. Ich hatte Licht und ein Handy. Was sollte also schon groß passieren?
Außerdem konnte ich jederzeit umdrehen und zurückgehen, wenn es mir zu unheimlich wurde, es zwang mich ja schließlich niemand zu irgendetwas. Um notfalls schnell flüchten zu können, zog ich meine Schuhe wieder an, ging über den kleinen Steg und steuerte auf das Baumhaus zu. Das Mondlicht schien darauf und es sah aus, als würde es auf mich warten. Aber das Holzhaus war nicht mein eigentliches Ziel. Meine Augen suchten den Boden nach der Stelle ab, an der ich neulich den Kreis aus Buschwindröschen entdeckt hatte.
Je näher ich dem Platz kam, desto mehr hatte ich das Gefühl, hier richtig zu sein. Es schien fast ein bisschen so, als würde mich jemand leiten und letztlich an den richtigen Ort bringen. Zum Tor zur Anderswelt.
Ich warf einen Blick auf meine Uhr und sah, dass es fünf Minuten vor Mitternacht war. Also setzte ich mich im Lotussitz vor die Blumenformation und atmete mit geschlossenen Augen gleichmäßig ein und aus, so wie
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