Küss den Wolf
Samstag, wenn ich ganz ehrlich war. »Leo ist wirklich toll, er mag mich scheinbar auch, Oma ist total begeistert von ihm und ich finde ihn wahnsinnig sexy. Nur reden kann ich irgendwie besser mit Marc.«
»Mit Marc?«, fragte Tinka irritiert und öffnete eine Tüte Chips. »Wieso das denn auf einmal? Hast du mir nicht andauernd die Ohren vollgejammert, dass er so arrogant und eingebildet ist und du befürchtest, dass er dich beim H-Mag rausmobben will?« Ich griff tief in die Chips-Tüte. Gespräche wie diese führte man leichter, wenn es etwas Leckeres zu essen gab. Und wenn es nicht ganz so hell war…
»Versprichst du mir, mich nicht zu verachten, wenn ich dir jetzt etwas verrate?«, fragte ich, während in meinem Kopf mal wieder das Chaos herrschte. Tinka machte das Schwurzeichen und guckte dabei so lieb, dass ich ganz gerührt war. Wie blöd, dass wir uns neulich wegen dieser Geschichte mit Leo gestritten hatten. Im Zweifelsfall konnte kein Mann der Welt, und wenn er noch so toll war, mit meiner geliebten Tinkabell mithalten! Sie war und blieb neben meinen Eltern und Theodora der wichtigste Mensch in meinem Leben.
»Also, was ist? Nun mach’s nicht so spannend«, drängelte Tinka. »Du willst mir jetzt doch nicht etwa sagen, dass du dich in Marc verliebt hast?« Nun schlug mein Herz mir bis zum Hals. Warum war das alles nur so kompliziert? Wie sollte ich dieses ganze Wirrwarr so formulieren, dass Tinka mich nicht für eine emotionale Chaos-Queen hielt? »Nein, das habe ich natürlich NICHT. Leo ist mein absoluter Traummann! Ich finde Marc nur irgendwie plötzlich netter als gedacht und… und…«
Tinka kaute aufgeregt auf ihrer Unterlippe herum.
Ich seufzte und gab es auf, um den heißen Brei herum zu reden. Tinka konnte ich die Wahrheit sagen, das wusste ich. »Meinst du, man kann zwei Typen gleichzeitig gut finden?«, stellte ich die alles entscheidende Frage und spürte selbst, wie dumm und naiv das klang.
Vor allem für jemanden, der bis vor wenigen Wochen noch überhaupt nichts mit der Liebe am Hut gehabt hatte.
36.
Freitag, 30. April
Als der Wecker klingelte, brauchte ich ausnahmsweise mal nicht die üblichen zehn Minuten, um aus dem Bett zu kommen. Heute war alles anders und ich hatte jede Menge vor. Das meiste davon würde allerdings nur funktionieren, wenn auch das Wetter mitspielte: Direkt nach der Schule würden Verena und ich Theodora in die Reha-Klinik nach St. Peter–Ording bringen. Danach wollte ich weiter nach Ohlstedt, um auf Hollas Feen-Fest zu gehen. Meiner Mutter hatte ich gesagt, dass ich das Wochenende in Theodoras Haus verbringen wollte, um den Dachboden aufzuräumen, weil am Montag die Reparaturarbeiten beginnen würden. Ich versuchte, den Gedanken daran zu verdrängen, dass das Dachdecken ein halbes Vermögen kosten würde. Und dass der von Leo empfohlene Gutachter Omas Haus generell keinen guten Zustand bescheinigt hatte. Seiner Ansicht nach war es dringend nötig, weitere Sanierungsarbeiten durchzuführen – die natürlich ebenfalls ein Vermögen kosten würden.
Statt in Trübsal zu versinken, versuchte ich, mich auf das zu freuen, was vor mir lag: Samstagnachmittag würde Leo nachkommen, was ich Verena wohlweislich verschwiegen hatte. »Guten Morgen, liebe Sonne«, summte ich fröhlich, als ich die Vorhänge beiseiteschob und sah, dass das Thermometer auf achtzehn Grad geklettert war. Martini maunzte und schmuste laut schnurrend mit meinem rechten Bein. »Ja, meine Süße, es gibt gleich Frühstück«, versprach ich und hob sie hoch, um ihr den strahlend blauen Himmel zu zeigen. Doch das interessierte sie natürlich kein Stück. »Du Arme, ich weiß. Du bist eine ganz verhungerte Katze und freust dich auf eine schöne Dose Thunfischfilet«, lachte ich und trug Martini in die Küche.
»Da seid ihr ja, ihr beiden, habt ihr gut geschlafen?«, fragte Verena, die bereits mit dem Dosenöffner hantierte. »Ja, haben wir. Und du?« Verena lächelte. »Ich auch. Und ich freue mich auf unseren Ausflug an die Nordsee. Hoffentlich ist die Klinik schön.«
»Ich habe mir Bilder im Internet angeschaut. Oma wird sich da bestimmt wohlfühlen. Außerdem war sie schon so lange nicht mehr am Meer…« Verena nickte und mir fiel nicht zum ersten Mal in dieser Woche auf, wie toll sie aussah. Ob es daran lag, dass sie sich wirklich verliebt hatte? Bislang war sie jedem meiner Versuche, etwas über ihre Verabredung am letzten Samstag herauszufinden, geschickt ausgewichen.
Kurz vor elf Uhr
Weitere Kostenlose Bücher