Küss den Wolf
ich es von Marlène beim Yoga gelernt hatte. Obwohl kühle Nachtluft vom Boden aufstieg, wurde mir von Minute zu Minute wärmer. Und ich wurde ruhiger.
Punkt zwölf erklang auf einmal ein aufgeregtes Wispern und Kichern und ich hatte das Gefühl, von einer Art Luftwirbel umschlossen zu sein. Und dann sah ich plötzlich direkt in die violett schimmernden Augen von Holla. »Wer hätte gedacht, dass du es tatsächlich schaffst, zu uns zu kommen«, sagte sie und grinste spitzbübisch. Heute sah sie zum ersten Mal wirklich aus wie eine Fee: Sie trug ein bodenlanges, grünlich glänzendes Kleid aus Organza, hatte ihre Haare hochgesteckt und mit einem Blumenkranz gekrönt. Doch sie war dummerweise immer noch die gleiche nervige Fee, die ich vor ein paar Wochen genau hier kennengelernt hatte! »Schicke Frisur«, konterte ich. »Betont nur deine Ohren ein bisschen zu stark.« Holla zog einen Flunsch, während ich aufstand und mich umschaute. Ich hatte immer noch das Gefühl, mitten in einem starken Wirbel zu stehen. Der Luftstrom wurde von mehreren tanzenden Elfen erzeugt, die kichernd Pirouetten drehten und ihre glitzernden Kleidchen im Mondlicht flattern ließen.
»Wollt ihr euch jetzt weiter streiten oder lieber gemeinsam feiern?«, fragte plötzlich ein traumhaft schönes Wesen, das etwas größer war als Holla, lange rotblonde Haare hatte und nach Zimt duftete. »Darf ich vorstellen, Pippa-Rosina: Das ist meine beste Freundin Rosa-Majalis-Blütenschön«, erklärte Holla.
»Du darfst mich aber auch gern Rosa nennen«, antwortete die Fee mit dem komplizierten Namen und gab mir die Hand. »Rosa Majalis bedeutet übrigens Zimtrose.«
»Rosa kümmert sich um den Rosengarten deiner Großmutter«, erklärte Holla und winkte zwei weitere Feen (zumindest nahm ich an, dass es welche waren) herbei: »Und das hier sind Melusine, die Wasserfee, wohnhaft am Gartenteich, und Sybilla-Veleda, die Steinfee, von der ich meinen Aquamarin habe.«
»Vielen Dank für die Milch, die du mir neulich auf die Fußmatte gestellt hast«, lächelte Sybilla und gab mir ebenfalls die Hand. Sie trug ein wunderschönes nachtblaues Kleid mit kleinen goldenen Sternen und hatte ihr rabenschwarzes Haar zu einem langen Zopf geflochten.
Melusine stand stumm daneben und betrachtete mich neugierig aus grün-goldenen Katzenaugen.
»Wie läuft es denn so mit deinem Leo?«, fuhr die Steinfee fort. Es stimmte anscheinend, dass Feen furchtbar neugierig waren. »Eigentlich ganz gut«, antwortete ich und folgte dem Feen-Quartett, das mich zu einer langen, geschmückten Tafel führte, an der Kobolde, Zwerge, Trolle, Elfen und auch einige Hexen saßen. Der Tisch war auf einer lauschigen Waldlichtung aufgebaut. Das ganze Szenario erinnerte ein wenig an Alice im Wunderland in der Version des genial durchgeknallten Regisseurs Tim Burton.
Ich setzte mich neben Sybilla, die mir aus einem perlmutt-farbenen Krug wunderbar duftenden grünlichen Saft einschenkte. »Ist das ein Milch-Shake?«, fragte ich grinsend und schnupperte an meinem Glas in Blütenkelchform. »Oder so was wie Nektar?«
Holla und Melusine wechselten einen bedeutungsvollen Blick. »Das ist ein ganz spezieller Feen-Trank«, antwortete Melusine mit leiser, geheimnisvoll klingender Stimme. Ich trank einen Schluck und fühlte mich schon nach kurzer Zeit wie im siebten Himmel. Sybilla sah mich von der Seite ernst an. »Bist du denn wirklich glücklich mit Leo?«, fragte sie in einem Tonfall, wie ich ihn bislang nur bei Paar-Therapeuten vermutet hätte. »Ich sehe nämlich einen weiteren Mann an deiner Seite, wenn ich in den Aquamarin schaue.« Holla schickte mir einen Blick, der zu sagen schien: Das hab ich dir ja gleich gesagt.
»Dieser andere Mann heißt Marc, nicht wahr?«, fuhr Sybilla beharrlich fort. »Und momentan kannst du dich nicht entscheiden, zu welchem von beiden du dich stärker hingezogen fühlst.«
Oha, diese Steinfee hatte es wirklich drauf, das konnte man nicht anders sagen. Aber musste sie meine persönlichen Angelegenheiten unbedingt vor all den anderen Gästen ausbreiten? »Keine Sorge, die meisten hier interessieren sich nicht für dein Liebesleben«, winkte Holla ab. »Die wollen heute Nacht nur ihren Spaß haben, ein wenig Absinth trinken, tanzen, lachen und glücklich sein…« ABSINTH?!?!
Das war doch dieser Drink aus Wermut, Fenchel und Anis, der auch die Grüne Fee genannt wurde. Der Alkoholgehalt war so hoch, dass man sich damit auf ewig ins Nirwana befördern konnte.
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