Küss den Wolf
sich bei den Problemen seiner Großtante um weitaus mehr als nur um Pech handelte. Ich erinnerte mich an den Artikel im Hamburger Abendblatt und das Interview mit der alten Dame.
Marc betrachtete mich nachdenklich und schien zu überlegen, ob er mich ins Vertrauen ziehen konnte. »Ich… ich habe da so einen Verdacht und bin einer Sache auf der Spur, von der ich… ach egal. Vergiss, was ich gesagt habe, Pippa. Wir besprechen morgen, wann wir das mit dem Blog machen, okay?« Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und ließ mich einfach stehen.
Also blieb mir auch nichts anderes übrig, als zurück zum Klassenraum zu gehen und mir schnell noch irgendeine Begründung für mein Zuspätkommen auszudenken.
»Na, dann setz dich jetzt aber mal schnell hin«, antwortete Antje Kammerer spitz. »Wir sprechen immer noch über Goethe, was ja nicht gerade dein Steckenpferd ist, nicht wahr?« Obwohl mir ein böser Kommentar auf der Zunge lag, hielt ich in diesem Moment lieber den Mund. Stattdessen schlüpfte ich auf den Platz neben Jenny, die fragend ihre Augenbraue nach oben zog.
Was hatte Marc damit gemeint, dass er einer Sache auf der Spur war? Und wieso wollte er wissen, ob Theodora in der Nähe des Schanzenviertels wohnte? Ich verstand nicht, worauf er hinausgewollt hatte, und beschloss, nicht mehr über seine seltsamen Andeutungen nachzudenken, schließlich hatte ich genügend andere Dinge im Kopf. Zum Beispiel Leo.
Mit einem vorsichtigen Blick zu Frau Kammerer tippte ich unter dem Tisch eine SMS mit der Frage, ob wir heute Abend ein bisschen spazieren gehen wollten. Bei der Gelegenheit wollte ich herauskriegen, ob er uns einen Handwerker als Gutachter für Omas Dach empfehlen konnte.
Wie gut, dass der liebe Gott die Lautlos-Funktion bei Handys erfunden hatte!
34.
Dienstag, 27. April – Eine
Altbauwohnung im Schanzenviertel
Die Kunst bestand darin, sich nichts anmerken zu lassen.
Sich freundlich und hilfsbereit zu zeigen, das Gegenüber zu beruhigen. Er hatte das alles sehr lange und intensiv geübt, deshalb konnte ihm in diesen Dingen keiner so schnell etwas vormachen.
Im Fall der alten Dame war das allerdings nicht ganz so einfach.
Tränenüberströmt hatte sie ihm die Tür geöffnet und ihn in ihre Küche geführt.
Oder vielmehr in das, was noch von ihr übrig geblieben war…
Sanft hatte er sie am Arm gestreichelt und auf sie eingeredet. Er versprach, sich um alles zu kümmern und dafür zu sorgen, dass sie ab jetzt in Ruhe und Frieden leben konnte.
Er versuchte, ihr die Angst zu nehmen, jemand hätte es gezielt auf sie abgesehen. Solche Dinge passierten nun mal, hatte er ihr geduldig erklärt. Das Haus war schließlich alt und sanierungsbedürftig.
Er versprach auch, sich um die Sache mit dem Dachboden zu kümmern und ihr einen Keller zu besorgen.
Viola sah ihn dankbar an, doch ihre Mundwinkel zitterten, als sie sagte: »Wenn noch etwas in dieser Art passiert, ziehe ich aus. Ich werde keine Minute länger mehr hier wohnen, wenn ich mir jedes Mal Sorgen darüber machen muss, was als Nächstes passieren könnte.«
»Es wird kein nächstes Mal geben«, antwortete er und drückte ihre Hand. »Auf gar keinen Fall – denn das lasse ich nicht zu!«
35.
Mittwoch, 28. April
»Weißt du, wie lange wir das schon nicht mehr gemacht haben?«, fragte Tinka und grinste über beide Ohren. Dann stopfte sie sich ein Kissen in den Rücken und aß eine Handvoll Erdnuss-Flips.
»Ich glaube, zuletzt, als wir acht waren«, grinste ich zurück und trank genussvoll den letzten Schluck heiße Schokolade aus einem Becher mit Froschkönig-Motiv. Meine Füße steckten in kuscheligen pinkfarbenen Frotteesöckchen. Dazu hatte ich einen hellrosa Flanellschlafanzug mit roten Herzchen an, das volle Kitschprogramm. Tinka trug anlässlich unserer spontanen Pyjama-Party Türkis und Hellblau. »Wie lange willst du eigentlich noch dieses Himmelbett behalten?«, fragte ich mit Blick nach oben zu dem Baldachin aus weißem Chiffon und kuschelte mich tief unter Tinkas Bettdecke. »Auf Typen könnte das ein bisschen abschreckend wirken, meinst du nicht?«
»Du glaubst, dass Leo so was nicht mögen würde? Was sagt er denn zu deinem Zimmer? Das sieht doch auch nicht gerade mega-erwachsen aus.«
»Er war noch nicht bei mir. Dafür aber ich bei ihm…«
Tinka hörte auf zu essen. »Echt? Und wie war’s?«
»Leo hat eine kleine, aber superschöne Altbauwohnung, kann ganz toll kochen und von seinem Schlafzimmerfenster aus hat man
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