Küss den Wolf
Hamburger Abendblatt berichtet worden war. »Hast du von dem älteren Herrn gelesen, der ein Skelett aus Plastik auf seinem Dachboden gefunden und dann einen Herzinfarkt bekommen hat?« Marc nickte ernst. »Das war Lothar Merseburg, ein Nachbar meiner Großtante. Zum Glück geht es ihm jetzt wieder besser. Er ist – genau wie deine Oma – in der Reha.«
»Aber wer sollte denn deiner Meinung nach dafür verantwortlich sein? Die Hausbesitzer oder die Verwaltung? Das ist doch total auffällig!«
»Ja, das ist die große Frage, auf die ich im Moment auch noch keine Antwort habe. In Violas Fall ist die Sache wirklich eindeutig. Das Haus steht am Rande des Schanzenviertels und die Gegend wird immer beliebter. Wenn man alle Wohnungen kernsaniert, kann man sie für einen Haufen Geld an die ganzen reichen Schickis verkaufen.«
»Hast du deshalb neulich gefragt, wo meine Oma wohnt?«, fragte ich und mein Herz begann, schneller zu schlagen. Konnte es sein, dass Theodoras Pechsträhne im Grunde nichts anderes war als der Versuch, sie aus ihrem Haus zu vertreiben?
»Ehrlich gesagt, ja.« Marc nickte. »Und ich war sehr froh zu hören, dass sie in Ohlstedt lebt. Was sie betrifft, ist das alles garantiert nur unglaubliches Pech gewesen. Aber lass uns jetzt lieber über etwas anderes reden, du bist doch sowieso schon traurig genug.«
Um kurz nach Mitternacht war Verena immer noch nicht zu Hause. Marc war um elf gegangen, nachdem wir endlich alles für den Blog geregelt hatten. Erleichtert darüber, dass ich mich in den kommenden Wochen weder damit noch mit dem H-Mag stressen musste, kuschelte ich mich zusammen mit Martini ins Bett.
Der Abend mit Marc war sehr, sehr schön gewesen, das musste ich zugeben. Aus irgendeinem Grund konnte ich in seiner Gegenwart total entspannen. So sehr, dass ich sogar vor ihm weinen konnte. Wer hätte das gedacht, nachdem wir beide einen so miesen Start gehabt hatten? Und wer weiß? Vielleicht hatte ich ja auch einiges von dem, worüber ich mich so aufgeregt hatte, einfach nur falsch verstanden und ihm unrecht getan? Eigentlich war er ja ein richtig netter Typ. Gut aussehend, klug, verständnisvoll, mitfühlend. Was er wohl über mich dachte?
Hm. Wahrscheinlich, dass ich eine egoistische, kleine Zicke war, die permanent nur von sich und ihren Problemen sprach, anstatt sich auch mal für ihn zu interessieren. Wahrscheinlich war ich schon längst auf dem besten Weg, ein bisschen asozial zu werden, weil ich mich nur noch um mich selbst drehte.
Das musste sich schleunigst ändern!
Am Montag würde ich Marc zu irgendetwas ganz Tollem einladen, als Dankeschön für seine Hilfe und überhaupt.
Und DANN würde ich ihm Löcher in den Bauch fragen, bis ihm schwindelig wurde. Ob er eine Freundin hatte?
Kaum hatte ich das gedacht, fing eine andere Stimme in meinem Kopf lautstark an zu schimpfen: Pippa, du hast einen Freund, also kümmere dich nicht um Marc, sondern denk lieber an Leo! Meine Gedanken kreisten allerdings weiter um Marcs furchtbare Vermutungen. Was, wenn bei Oma doch etwas Ähnliches passierte wie in dem Haus im Schanzenviertel, auch wenn es auf den ersten Blick nicht danach aussah? Panisch tippte ich eine SMS an Leo: »Oma muss verkaufen, bin todunglücklich. P.«
In diesem Moment drehte sich der Schlüssel im Türschloss. Ich wartete darauf, dass Mama ins Zimmer kommen würde, um nachzusehen, ob ich schon schlief. So, wie sie es immer tat, wenn sie spät nach Hause kam. Aber sie kam nicht. Stattdessen polterte es im Flur und ich hörte Verena leise fluchen. Was war denn jetzt passiert?
Als Nächstes wurde die Tür zu ihrem Zimmer geschlossen und ich hörte durch die Wand ein Murmeln. Mit wem telefonierte sie denn um diese Uhrzeit? Verwirrt schüttelte ich den Kopf.
Als Verena zehn Minuten später immer noch sprach, war ich kurz davor, vor Neugier zu platzen. Deshalb schlich ich auf Zehenspitzen in den Flur und legte mein Ohr an ihre Zimmertür.
»Ja, ich kann es auch kaum noch erwarten… Doch, natürlich freue ich mich! Das wird mein Leben komplett verändern… ja, natürlich auch das von Pippa, das ist mir klar. Aber ich denke schon, dass…« Dann konnte ich nichts mehr hören, weil das Telefonat anscheinend durch etwas Wichtiges (oder eine dritte Person?!?) unterbrochen wurde.
Verena sagte: »Natürlich, ich verstehe, kein Problem. Schlaf gut und träum von uns, dasselbe werde ich auch tun.« Dann war es mit einem Mal totenstill in der Wohnung. Vollkommen durcheinander legte
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