Küss den Wolf
ich mich wieder ins Bett, doch ich konnte nicht schlafen. Wer war dieser nächtliche Anrufer gewesen? Von wem wollte sie heute Nacht träumen? Und wieso würde derjenige sowohl ihr als auch mein Leben verändern? Mist, Mist, Mist! Ich brauchte wirklich dringend jemanden zum Reden, aber um diese Uhrzeit konnte ich Tinka schlecht aus dem Bett klingeln! »Aber ich bin doch da«, ertönte eine sanfte Stimme vom anderen Ende des Raums. »Ich habe versprochen, auf dich aufzupassen, schon vergessen? Soll ich zu dir ins Bett kommen?«
Obwohl ich mich ein wenig über mich selbst wunderte, schlug ich die Bettdecke zur Seite. Eine Sekunde später glitt Holla neben mir unter die Laken. Ihre Flügel kitzelten meine Schulter, aber allein ihre Gegenwart hatte schon etwas sehr Beruhigendes.
»Also erzähl mal, was bedrückt dich so?«
»In erster Linie Omas finanzielle Schwierigkeiten. Ich möchte nicht, dass sie das Grundstück verkaufen muss, es würde ihr das Herz brechen… und mir ehrlich gesagt auch«, flüsterte ich, um zu vermeiden, dass Verena mich hörte.
»Stimmt, das wäre wirklich nicht so toll. Die Feen-Gemeinschaft ist sich einig darüber, dass der Verkauf vermutlich auch ein schnelles Aus für die Waldgeister bedeuten würde. Aber wenn es nicht anders geht, müssen wir das eben alle akzeptieren. Das ist leider manchmal so im Leben, wir haben nicht alles in der Hand.« Ich seufzte. »Wieso kannst du nicht einfach eine von den Feen sein, bei der man drei Wünsche frei hat und – Hokuspokusfidibus – mit einem Knall sorgenfrei ist?«
»Ich persönlich bevorzuge zwar den Zauberspruch Lebeneu, aber das tut ja momentan nichts zur Sache. Was würdest du dir denn wünschen?«, fragte Holla mit sanfter Stimme und strich mit ihren Feenhänden über die Bettdecke. »Hm, mal überlegen…« Diese Frage war gar nicht so leicht zu beantworten, wie ich dachte. Drei waren einerseits sehr viel, andererseits auch viel zu wenig, wenn man bedachte, wie viel bei mir gerade zu regeln war. »Als Erstes würde ich mir wünschen, dass meine Großmutter wieder glücklich wird. So traurig war sie zuletzt, als Opa gestorben ist. Ich möchte einfach, dass sie bald wieder ganz gesund wird.«
»Und als Zweites?«
»Ich würde gern die große Liebe finden und dauerhaft behalten. Im Moment bin ich einfach ziemlich verwirrt. Auf der einen Seite fühle ich mich von Leo magisch angezogen. Und auf der anderen Seite unterhalte ich mich auch supergerne mit Marc. Das klingt jetzt vielleicht seltsam, weil ich ihn am Anfang überhaupt nicht leiden konnte und für einen arroganten Lackaffen gehalten habe. Aber heute Abend war es sehr, sehr schön mit ihm und aus irgendeinem Grund habe ich bei ihm mehr das Gefühl, gut aufgehoben zu sein, als bei Leo. Das mit Leo, das ist… das ist eher so etwas… na ja…«
»Er turnt dich an!«, vervollständigte Holla meinen Satz. »Er macht dich verrückt, weil er der erste Mann in deinem Leben ist, der dir wirklich nahekommen durfte. Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass es mit Marc vielleicht genauso schön sein könnte? Oder vielleicht sogar noch schöner?« Nein, das hatte ich nicht. Oder na ja, wenn ich ganz ehrlich war, vielleicht doch irgendwann mal… aber nur ganz, ganz kurz…
»Aber was ist, wenn er der Mann ist, vor dem Sybilla mich gewarnt hat?«
»Und was ist, wenn es Leo ist? Sybilla hat dir geraten, der Stimme deines Herzens zu folgen.«
»Aber genau das ist ja mein Problem. Ich habe gerade überhaupt keine Ahnung, was mein Herz wirklich sagt. Warum muss das alles nur so kompliziert sein?«, antwortete ich, einen Tick lauter als beabsichtigt. Hoffentlich stand Verena nicht gleich im Zimmer. Aber schließlich wollte sie ja von ihrem Mister Unbekannt träumen und schlief wahrscheinlich längst tief und fest.
Und dann hatte ich eine Idee: »Weißt du was, Holla? Es reicht mir vollkommen, wenn du mir einen einzigen Wunsch erfüllst. Ich möchte, dass alle Dinge wieder in Ordnung kommen!« Ich konnte es zwar nicht sehen, weil es dazu zu dunkel war. Aber ich konnte spüren, wie Holla schmunzelte.
Ob ich ihr ein Glas Milch als Gute-Nacht-Trunk servieren sollte? Oder – noch besser – eine heiße Milch mit Honig?
42.
Freitag, 7. Mai – An der Außenalster
im Dämmerlicht
Er schlenderte an der Alster entlang und betrachtete die Prunkvillen, die das Ufer säumten.
Zum Glück brauchte er jetzt nicht mehr länger neidisch sein.
Nicht mehr lange und er würde in die Wohnung einziehen
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