Küss den Wolf
Ich könnte Ihnen den Kontakt zum Leiter dieser Kette vermitteln, und Sie bieten ihm das Waldgrundstück an, anstatt den Verkauf einem Makler zu übergeben. Dann könnte ein großer Teil des Waldes erhalten bleiben und Theodora auf diese Weise sogar noch etwas Gutes tun. Ich finde, wenn schon verkauft werden muss, dann doch wenigstens an eine Einrichtung, die sich für das Gemeinwohl einsetzt und vor Ort nicht allzu viel verändern würde.«
Verena überlegte und spielte nervös mit dem Brotmesser.
In meinem Kopf ratterte es ebenfalls. Leo hatte recht. Es wäre noch viel schlimmer, wenn an dem Ort, wo jetzt noch mein Baumhaus stand, plötzlich ein Parkplatz oder irgendein blöder Schickimicki-Bungalow gebaut werden würde.
»Für mich klingt das nach einer sehr guten Idee«, sagte Mum schließlich, lächelte und streichelte liebevoll meinen Arm. »Und ich könnte mir vorstellen, dass es Theodora unter diesen Umständen ebenfalls leichter fallen würde zu verkaufen. Bis wann müssten Sie denn Bescheid wissen?«
»Ende nächster Woche oder so. Es dauert ja schließlich eine Weile, bis alle Verhandlungspartner sich einig sind. Aber das Wichtigste ist, dass Sie als Familie dem Vorschlag gemeinsam zustimmen.«
Da kam mir eine Idee. »Ich könnte doch morgen nach St. Peter-Ording fahren und Theodora besuchen. Bei der Gelegenheit kann ich sie fragen, was sie von Leos Idee hält.« Ja, genau so würde ich es machen.
Ich vermisste Oma und ich vermisste die Gespräche mit ihr. Und ich war Leo unendlich dankbar dafür, dass er scheinbar einen Weg aus dieser vertrackten Situation gefunden hatte.
44.
Sonntag, 9. Mai
»Nächste Station, Sankt Peter-Ording.«
Erschrocken zuckte ich zusammen und griff nach meinem Rucksack. Ich war heute Morgen so früh aufgestanden, dass ich während der langen Bahnfahrt immer wieder eingeschlummert war. Da Verena mir Geld für ein Taxi spendiert hatte, musste ich zum Glück nicht noch ewig mit dem Bus durch die Gegend fahren. Als das Taxi vor der Klinik hielt, erwartete Theodora mich schon am Eingang. Im Gegensatz zum letzten Mal sah sie sehr schlecht aus: Sie war blass, ihre Wangen eingefallen, die Augen lagen in tiefen dunklen Höhlen.
»Da bist du ja, mein Rotkäppchen«, begrüßte sie mich und schloss mich lächelnd in ihre Arme. »Schön, dich zu sehen, Kind.«
»Hast du Lust, ein bisschen spazieren zu gehen?«, fragte ich, etwas unsicher, wie viel ich ihr im Moment zumuten konnte.
»Aber natürlich. Bewegung und frische Luft sind die beste Medizin. Über den Strand kann ich im Augenblick zwar nicht so gut laufen, aber ein bisschen die Kurpromenade rauf- und runterwackeln, das schaffe ich gerade noch.«
»Dann also die Promenade«, stimmte ich zu und hakte sie unter. Während wir zwischen Kurgästen und Touristen spazieren gingen und aufs Meer blickten, wagte ich es endlich, das Thema Verkauf anzusprechen. Nachdem ich von Leos Vorschlag erzählt hatte, sagte Theodora: »Am besten wir setzen uns einen Moment. Ich kann nicht klar denken, wenn ich stehe.« Ein kleiner Anflug von Traurigkeit überkam mich. Noch bis vor Kurzem konnte Oma am allerbesten denken, wenn sie in Bewegung war. So schnell konnten sich Dinge ändern!
»Wie findest du denn Leos Vorschlag?«, fragte sie und schaute drei Möwen zu, die sich laut kreischend um ein halbes Brötchen stritten, das jemand achtlos auf den Weg geworfen hatte.
»Abgesehen davon, dass es mir natürlich lieber wäre, du müsstest nicht verkaufen, finde ich die Idee auf den ersten Blick ganz gut. Es ist zumindest tausendmal besser, den Bau eines Ferienheims für Kinder zu unterstützen, als dabei zusehen zu müssen, wie irgendein Immobilienhai dir einen Wohnklotz vor die Nase setzt.« Mit Schaudern musste ich wieder an Sybillas Prophezeiung denken: »Ich sehe Finsternis, Zerstörung und endlose Leere. Da wo heute Bäume stehen, Waldblumen wachsen und Vögel ihre Nester bauen, wird schon bald nichts mehr sein als kalter Stein und Beton.«
Theodora seufzte tief. »Vermutlich hast du recht. Es ist jetzt wahrscheinlich am besten, auch mal zuzulassen, dass Dinge sich ändern. Wir sollten beide dankbar sein für die schöne Zeit, die wir dort verlebt haben. Und wer weiß? Vielleicht können wir uns aus dem Erlös Dinge leisten, die wir immer schon mal gerne haben oder machen wollten. Du hättest genug Geld, um zu studieren, ohne nebenbei jobben zu müssen. Ich könnte endlich länger auf Reisen gehen und mir Orte anschauen, die ich mir vorher
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