Kuess mich doch - Roman
mehr denn je danach sehnte, an irgendeinen Ort zu reisen, an dem sie wieder frei atmen konnte. Doch das war ausgeschlossen, nun, da sie mit Coop in diese rätselhafte Geschichte verstrickt war. Weil sie wusste, dass sie sich unmöglich auf die Arbeit würde konzentrieren können, sagte sie ihr Meeting bei Hot Zone kurzerhand ab und tat stattdessen das, was für sie dem Verreisen am nächsten kam.
Kurz darauf stand sie vor dem Empire State Building. Sie passierte die Sicherheitsschleuse und kaufte sich ein Ticket. Obwohl es noch früh am Morgen war, wimmelte es bereits vor Touristen, und vor den Aufzügen bildeten sich lange Warteschlangen. Doch das machte Lexie nichts aus. Begleitet vom Stimmengewirr der anderen Besucher fuhr sie ins sechsundachtzigste Stockwerk, wo sich die Aussichtsplattform befand. Lexie war schon oft hier gewesen. Das Warten und
der Eintrittspreis hatten sich noch jedes Mal bezahlt gemacht.
Dies war Lexies persönliches Refugium. Hierher kam sie, wenn sie in New York war und das Gefühl hatte, dass ihr alles zu eng wurde. Die Aussicht war Balsam für ihre Seele. Obwohl ihr sämtliche statistische Daten wohlbekannt waren, staunte sie stets aufs Neue darüber, dass man an einem klaren Tag wie heute hundert Kilometer weit sehen konnte. Der Himmel war strahlend blau und bildete eine gigantische Kuppel über den Hausdächern bis nach Connecticut, New Jersey, Pennsylvania und sogar Massachusetts.
Sie dachte an ihren allerersten Ausflug hierher. Es war eine ihrer Trainings-Schwänzaktionen gewesen. Sie war gemeinsam mit ihrer Großmutter in einen der schnellen Aufzüge gestiegen, und oben angekommen hatte Charlotte ihre Hand ergriffen und gesagt, sie solle die Stirn gegen die kalte Scheibe drücken.
Genau das tat Lexie nun auch. Sie lehnte den Kopf an die Glasscheibe und schloss die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, hatte sie das Gefühl, in der Luft zu schweben, direkt über der Stadt, die in all ihrer Pracht zu ihren Füßen ausgebreitet lag. Sie atmete tief durch und wartete ab, bis ihr wie üblich all ihre Probleme nichtig und klein vorkamen. Für kurze Zeit durchströmte sie das erwartete Gefühl der Leichtigkeit, doch dann wanderten ihre Gedanken rasch zu Coop. Sie erinnerte sich an seine Lippen auf den ihren, an seinen Körper, der tief in ihrem vergraben war, daran, wie ungeniert sie sich verhalten hatte.
Sie würde sich auf keinen Fall gestatten zu vergessen, dass er seine eigenen Ziele verfolgte. Je skandalträchtiger die Geschichte rund um den Ring wurde, desto attraktiver wurde sie für Coop, den Journalisten. Von Coop, dem Krimiautor ganz zu schweigen. Seine Interessen hätten von den ihren nicht weiter entfernt sein können.
Und von denen ihrer Großmutter. Das führte sie zur nächsten Angelegenheit, die sie beschäftigte. Wie sollte sie Charlotte beibringen, dass ihr geliebter Ehemann möglicherweise in einen Diebstahl verwickelt gewesen war und dass sie ihre geliebte Halskette unter Umständen dem rechtmäßigen Eigentümer zurückgeben musste? Plötzlich hatten der endlose Himmel und der Sonnenschein nicht mehr dieselbe Wirkung.
Die Realität hatte sie eingeholt. Lexie hatte keine andere Wahl, als sich ihr zu stellen so gut sie konnte – in direkter Konfrontation. Das erinnerte sie daran, dass sie mit ihrer Großmutter noch ein ernstes Wort reden musste, weil sie ihnen nachspioniert und voyeuristische Bilder geknipst hatte, die sie dann auch noch an den Bachelor Blog geschickt hatte.
Sie straffte die Schultern und verharrte noch ein paar Minuten, bis das Gefühl der Leichtigkeit endgültig verflogen war. Dann warf sie einen letzten Blick auf die atemberaubende Skyline, drehte sich um und ging in Richtung Aufzug.
Sie fragte sich, was Coop wohl von der Aussicht halten würde und stellte fest, dass sie ihm diesen besonderen Ort gern zeigen würde, um seine Reaktion
auf den Blick über die Stadt zu sehen, die sie beide so liebten. Bei dem Gedanken lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Er jagte ihr Angst ein, und zugleich verursachte er ihr Schmetterlinge im Bauch.
Lexie traf so früh bei ihrer Großmutter ein, dass ihr noch reichlich Zeit blieb, bevor Coop auftauchen würde. Sie wollte duschen und sich umziehen. Vielleicht sollte sie sich sogar jetzt schon mit ihrer Großmutter hinsetzen und die unangenehme Unterhaltung führen, die früher oder später ohnehin auf sie zukam. Doch Charlotte war nicht allein. Sylvia hatte ihr gerade die Haare gefärbt, und nun
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