Küss mich Engel
all ihr Geld, um genug zu haben, wenn das Baby kam. Seine ohnehin überwältigenden Schuldgefühle wuchsen noch, als er daran dachte, wie sie hier gelebt hatte, während er zwei Luxuskarossen und eine Villa voller Kunstgegenstände zu Hause stehen hatte.
Als sie sich auf die Heimfahrt machten, überlegte er kurz, ob er sie nicht in sein Haus in Connecticut bringen sollte, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Sie musste sich mehr als nur körperlich erholen; sie musste auch emotional genesen, und vielleicht halfen ihr die geliebten Tiere ja dabei.
Es war alles so vertraut, dass Daisy sich einen Moment lang richtig wohl fühlte, während der Pickup ruckelnd zum Stehen kam. Sie und Alex waren wieder einmal unterwegs zum nächsten Zeltplatz. Sie liebte ihn, und sie war schwanger - da zuckte sie zusammen, als mit einem Mal die Realität wieder über sie hereinbrach.
Er zog den Autoschlüssel ab und machte die Fahrertür auf. »Ich brauch unbedingt ein bisschen Schlaf, bevor ich uns noch gegen einen Brückenpfeiler fahre. Warte hier, während ich einchecke.« Er kletterte aus dem Pickup und schlug die Tür hinter sich zu.
Sie lehnte sich im Sitz zurück und schloss die Augen vor der untergehenden Sonne und ihr Herz vor der Zärtlichkeit, die sie in seiner Stimme gehört hatte. Er war voller Schuldgefühle, das konnte jeder sehen, aber sie würde sich nicht von ihm manipulieren lassen. Nach den Lügen, die er ihr zuvor aufgetischt hatte, fühlte er sich zweifellos besser, aber sie zu glauben würde bloß in eine Falle führen. Sie musste an ihr Kind denken und konnte sich den törichten Optimismus nicht länger leisten.
Er hatte ihr erzählt, dass ihr Vater und Amelia ihre Pillen ausgetauscht hatten, und sich dafür entschuldigt, ihr nicht vertraut zu haben. Noch mehr Schuldgefühle. Sie versuchte nicht mehr an ihn zu denken.
Warum konnte er sie nicht in Ruhe lassen? Warum hatte er sie gezwungen, mit ihm zurückzukommen? Zum ersten Mal seit Wochen drohten all die Gefühle, die sie so hart unterdrückte, an die Oberfläche zu kommen. Sie presste die Fingerknöchel gegen den Mund und zwang sich, sie wieder herunterzuschlucken und erneut jenen Panzer um sich herum zu errichten, ohne den sie den letzten Monat über nie hätte funktionieren können.
So lange sie zurückdenken konnte, hatte sie sich immer von ihren Gefühlen leiten lassen, doch das war nun nicht mehr möglich. Nicht, wenn sie überleben wollte. Stolz ist alles, hatte Alex zu ihr gesagt, und jetzt wusste sie, dass er recht hatte. Ihr Stolz hatte sie am Leben erhalten. Er ermöglichte es ihr, den Telefondienst zu machen und den ganzen Tag lang Köpfe zu shampoonieren, um dann am Abend schwere Tabletts mit fettigem Essen, bei dem sich ihr der Magen umdrehte, zu servieren.
Dank ihrem Stolz hatte sie ein Dach über dem Kopf gehabt und Geld beiseite legen können. Der Stolz hatte sie am Leben erhalten, wo Liebe sie getötet hätte.
Und was jetzt? Zum ersten Mal seit Wochen verspürte sie eine Angst, die nichts damit zu tun hatte, ob sie das Geld für ihre Miete aufbrachte oder nicht. Sie hatte Angst vor Alex. Was hatte er vor mit ihr?
Die größte Bedrohung für einen jungen Tiger ist ein älterer Tiger. Tiger empfinden keine starken Familienbande wie Löwen oder Elefanten. Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass ein Tiger sein eigenes Junges tötet.
Sie tastete hektisch nach dem Türgriff, doch in diesem Moment kam ihr Mann schon wieder auf sie zu.
Alex zog einen Stuhl von dem Tisch zurück, auf dem der Zimmerkellner soeben das von ihm bestellte Essen angerichtet hatte. »Setz dich und iss, Daisy.«
Er hatte nicht bei einem billigen Motel haltgemacht, sondern sie beide in eine Luxussuite in einem blitzneuen Marriott-Hotel, das am Ufer des Ohio nahe der Grenze zu Kentucky gelegen war, eingebucht. Sie musste daran denken, wie sie immer beim Einkaufen jeden Dollar umgedreht und ihm Vorwürfe wegen seiner Verschwendungssucht gemacht hatte, wenn er eine gute Flasche Wein kaufte. Er musste sich innerlich gekugelt haben vor Lachen über sie.
»Ich hab dir doch gesagt, ich hab keinen Hunger.«
»Dann setz dich einfach zu mir an den Tisch.«
Es war einfacher, den angebotenen Stuhl anzunehmen, als sich mit ihm zu streiten. Er zog den Gürtel des weißen Frotteemantels fester, den er sich nach seiner Dusche übergezogen hatte, und setzte sich ihr gegenüber. Seine Haare waren noch feucht und kringelten sich ein wenig an den Schläfen. Er musste mal wieder zum
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