Küss mich Engel
Herz fing wie wild an zu pochen, und ein unheimliches Glücksgefühl durchflutete ihn, das jedoch beinahe sofort von Sorge und Kummer ersetzt wurde. Selbst aus fünfzehn Metern Entfernung konnte er sehen, dass sie kein Makeup trug und unheimlich müde wirkte. Das Haar hatte sie im Nacken zusammengebunden, und zum ersten Mal, seit er sie kannte, wirkte sie beinahe farblos. Wo war die Daisy, die so gerne mit ihren Püderchen und Parfüms herummachte? Die Daisy, die sich so gerne mit Aprikosenduftlotion einrieb und himbeerfarbenen Lippenstift auftrug? Wo war die Daisy, die das ganze heiße Wasser aufbrauchte, wenn sie duschte, und einen klebrigen Haarsprayfilm an der Badezimmertür hinterließ? Sein Mund war auf einmal ganz trocken, während er ihren Anblick in sich aufsaugte. Etwas in ihm zerbrach in diesem Moment. Das war die Daisy, die er aus ihr gemacht hatte.
Das war Daisy ohne Leben in den Augen, ohne das Licht der Liebe darin.
Als er näher kam, sah er, dass ihre Wangen eingefallen waren. Sie musste Gewicht verloren haben. Sein Blick flog zu ihrer Taille, aber der lose Blazer, den sie über einer dunklen Hose trug, kaschierte ihre Figur. Angst durchzuckte ihn. Wenn sie nun das Baby verloren hatte? War das etwa seine Strafe?
Ihre Aufmerksamkeit war ganz auf ihre stumme Zwiesprache mit dem Gorilla gerichtet, so dass sie ihn nicht sah, wie er um die Kinder herumging und von hinten an sie herantrat. Leise sagte er: »Hallo Daisy.«
Sie erstarrte und wandte sich dann um. Sie wurde noch bleicher, und ihre Hände zuckten krampfhaft. Sie sah aus, als würde sie gleich davonsprinten wollen, und er trat rasch einen Schritt näher, aber die Kälte in ihrem Gesichtsausdruck veranlasste ihn zum Stehenbleiben. Das einzige andere Mal, dass er so leere Augen gesehen hatte, war, als er in den Spiegel geschaut hatte.
»Wir müssen miteinander reden.« Er wiederholte damit unbewusst die Worte, die sie so oft zu ihm gesagt hatte, und der steinerne Ausdruck, mit dem sie ihn nun ansah, musste wohl dem ähneln, mit dem er sie oft angesehen hatte.
Wer war diese Frau? Ihrem Gesicht fehlte all die Lebendigkeit, an die er so gewöhnt war. Die veilchenblauen Augen wirkten so leblos, als würden sie niemals weinen. Es kam ihm vor, als wäre etwas in ihr abgestorben, und er fing an zu schwitzen. Hatte sie das Baby verloren? War sie deshalb so anders? Nicht das Baby. Bitte nicht.
»Es gibt nichts zu bereden.« Sie wandte sich um und ging fort, zurück durch den Seilvorhang, der als Eingangstür zum Habitat diente. Er folgte ihr nach draußen und ergriff sie, ohne zu überlegen, beim Arm.
»Lass mich los.«
Wie oft hatte sie das gesagt, während er sie über den Zeltplatz oder zu Nachtschlafender Zeit aus dem Bett gezerrt hatte? Aber diesmal sprach sie die Worte ohne auch nur einen Anflug ihrer früheren Leidenschaft. Er blickte hinunter in ihr blasses, verschlossenes Gesichtchen. Was hab ich dir angetan, mein Liebes?
»Ich will bloß reden«, sagte er brüsk und zog sie etwas weiter weg, fort von den Leuten.
Sie blickte die Hand an, die immer noch ihren Arm festhielt. »Falls du vorhast, mich zu einer Abtreibungsklinik zu schleppen, dann ist es zu spät.«
Er hätte am liebsten den Kopf zurückgeworfen und laut aufgeheult. Sie hatte das Baby verloren, und es war alles seine Schuld.
Er ließ die Hand sinken und brachte die nächsten Worte kaum heraus. »Du weißt gar nicht, wie leid mir das tut.«
»Oh, das weiß ich«, sagte sie mit einer unheimlichen Ruhe. »Du hast es ja unmissverständlich klargemacht.«
»Ich hab gar nichts klargemacht. Ich hab dir nie gesagt, dass ich dich liebe. Ich hab hässliche Dinge zu dir gesagt, die ich nicht so gemeint hab.« Er hätte sie so gern in die Arme genommen, dass es richtig weh tat, aber sie hatte eine unsichtbare Barriere um sich herum errichtet. »All das liegt jetzt hinter uns, mein Schatz. Wir fangen noch mal neu an. Ich verspreche, dass ich‘s wieder gutmache.«
»Ich muss jetzt gehen. Ich muss bald in der Arbeit sein.«
Es war, als hätte er überhaupt nichts gesagt. Er hatte ihr gesagt, dass er sie liebte, aber es spielte überhaupt keine Rolle. Sie wollte weggehen und ihn nie wiedersehen.
Sein Entschluss wurde noch stärker. Er konnte das nicht zulassen. Mit dem Kummer konnte er sich später befassen. Vorerst einmal würde er alles tun, um seine Frau zurückzubekommen.
»Du kommst mit mir mit.«
»Nein, das werde ich nicht. Ich hab einen Job.«
»Du hast außerdem einen
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