Küss mich, Sweetheart: Roman (German Edition)
plötzlich in Luft aufgelöst. Und Max mit ihnen.
Es war seltsam.
Es war dunkel.
Es war regelrecht unheimlich.
Dieser Teil des Maisfeld-Irrgartens schien, abgesehen von einem Heuballen, auf dem eine Kürbislaterne thronte, und einer Vogelscheuche, die zwischen den Maiskolben herausragte, völlig menschenleer zu sein. Jetzt verstand sie, warum etwas so Segensreiches wie ein Maisfeld gefährlich sein konnte. Man konnte leicht verloren gehen.
Und es war schwer, wieder gefunden zu werden.
Gillian atmete tief durch. Die Abendluft war kühl. Sie fröstelte und war für das warme Jackett dankbar, das Sam ihr für diesen Abend empfohlen hatte. Zumindest würde sie sich nicht zu Tode frieren.
Wo war sie bloß?
Direkt vor ihr waren zwei identisch aussehende Pfade, nur dass sie in entgegengesetzte Richtungen führten. Es gab keinerlei Hinweis, welchen Weg Max und seine jungen Begleiter eingeschlagen hatten. Sie warf im Geist eine Münze und nahm den Weg, der nach rechts abging.
Es war die falsche Wahl.
Weniger als eine Minute später rannte sie vor einen weiteren Heuballen, von dem sie ein weiterer ausgehöhlter Kürbis aus dem Dunkel heraus angrinste. Und daneben wieder eine Vogelscheuche. Sie hatte ein altes Bettlaken um und sollte offensichtlich ein Gespenst darstellen.
Gillian straffte die Schultern und reckte das Kinn ein wenig. Sie war nicht verloren. Sie hatte nur die Orientierung verloren, fand sich im Moment nicht zurecht. Aber das Problem ließ sich Gott sei Dank ganz einfach lösen. Sie musste nur ihre Schritte bis zum Ausgang zurückverfolgen. So, wie sie hereingekommen war, musste sie schließlich auch wieder herauskommen.
Sie machte kehrt.
Bald schon war ihr klar, dass dies weder der Weg nach draußen noch sonst wohin war. Es war wieder eine Sackgasse, von der erneut eine Sackgasse abzweigte. Sie war bei der Suche nach dem Ausgang aus diesem Kaninchenbau, aus diesem Gewirr von Gängen, Heuballen, Kürbisfratzen, makabren Vogelscheuchen und wogenden Maiskolben keinen Schritt weitergekommen und war so schlau wie eine Viertelstunde zuvor.
Sie hielt die Luft an.
War da nicht ein Geräusch? War da jemand? Näherte sich jemand?
Gillian wollte schon laut rufen, aber irgendetwas hielt sie zurück. Eine Art sechster Sinn? Ein vager Verdacht? Zweifel? Vielleicht ein Überlebensinstinkt? Besser Vorsicht als Nachsicht, dachte sie und wagte kaum zu atmen.
Da war es wieder.
Es waren eindeutig Schritte, die direkt auf sie zukamen. Sie waren zu schwer, um von einem Kind, einem Zwölfjährigen, zu sein, und eine Horde angehender Teens war es schon gar nicht. Es war ein Erwachsener, der irgendwelche Stiefel anhatte, jedenfalls niemand mit einem leichtfüßigen Gang.
»Miss Charles«, hörte sie eine gedämpfte Stimme rufen, von der sie nicht sagen konnte, ob sie zu einem Mann oder einer Frau gehörte. »Wo sind Sie?«
Gillian öffnete schon den Mund, besann sich dann aber eines Besseren und schloss ihn gleich wieder, ohne einen Laut von sich zu geben.
Eine raue, krächzende Stimme fragte: »Haben Sie sich verirrt, Miss Charles? Brauchen Sie Hilfe, um nach draußen zu finden?«
Gillian rührte sich nicht.
»Kommen Sie heraus, Miss Charles, kommen Sie doch, wo immer Sie sind«, drängte der Jemand in einem seltsamen Singsang.
Die Sache gefiel ihr nicht; sie gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie hatte zwar nicht vor, sich wie ein verängstigtes Kind in eine Ecke zu kauern, aber wie hieß es doch so schön, Reden ist Silber, und Schweigen ist Gold; und jetzt war sicher ein guter Zeitpunkt, das zu beherzigen.
Gillian hielt den Atem an.
Die schweren Schritte kamen näher.
Sie musste sich etwas einfallen lassen. Und zwar schnell. Sie taxierte die Größe der Vogelscheuche, die hinter dem Heuballen zu ihrer Rechten stand. Sie bewegte sich schnell und duckte sich gerade hinter die Strohpuppe, als in dem Gang vor ihr, keine fünf Meter entfernt, eine massige, dunkle Gestalt auftauchte.
Es war ihr Fleisch und Blut gewordener Albtraum.
Ihr brach der Schweiß aus. Lieber Gott, hatte die Gestalt sie gesehen?
Das Wesen blieb stehen, kam zwei Schritte näher, dann noch ein bisschen näher und blieb schließlich mitten in dem Gang stehen. Es war von Kopf bis Fuß in einen schwarzen Umhang eingehüllt. Um genau zu sein, vom Hals bis zu den Füßen, denn dem Kostüm fehlte der Kopf.
Es war der kopflose Reiter.
»Es gibt kein Entkommen, Miss Charles. Früher oder später erwische ich Sie doch.« Ein eigenartiges Lachen,
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