Küss mich, Sweetheart: Roman (German Edition)
Anwälte zu wenden, fragte sie: »Kennen Sie den Mann?«
»Ich bin ihm ein- oder zweimal persönlich begegnet. Aber am besten bekannt ist mir Samuel Law durch seinen Ruf.« Der selbst nach den Standards einer Stadt mit tausenden von hervorragenden Anwälten prominent zu nennende Rechtsanwalt lehnte sich auf seinem ergonometrisch perfekt gestylten Bürosessel zurück und strich sich übers Kinn, als zöge er an einem unsichtbaren Bart. »Ich glaube, Trace ist mit ihm persönlich bekannt.«
Trace rückte seine Ton in Ton gestreifte blaue Krawatte zurecht, legte die Ellbogen auf den Rand des Konferenztisches, stützte sich mit den Fingern ab und räusperte sich, bevor er zu sprechen begann: »Ich kenne Sam tatsächlich gut bzw. kannte ihn gut. Wir haben zusammen studiert.«
»In Harvard, nicht wahr?«
Er nickte. »Nach seiner Graduierung und seiner Zulassung als Anwalt vor Gericht arbeitete Sam auch einige Jahre in Manhattan.«
Gillian brauchte einen Augenblick, um seine Ausführungen einzuordnen. »Das heißt, der Kleinstadtjunge zog nach Osten in die große Stadt.«
»So in etwa.«
»Offensichtlich hat er sich entschlossen, wieder nach Hause zurückzukehren.«
Trace Ballinger nickte ein zweites Mal. »Vor ungefähr drei Jahren.«
Der Spitzenanwalt hatte seine Gerichtsmiene aufgesetzt. Gillian konnte aus seinem Gesicht nicht viel ablesen. »Entgegen der bekannten Volksweisheit kann man vielleicht ja doch nach Hause zurückkommen.«
»Vielleicht kann man es tatsächlich«, gestand er schließlich zu.
Doch im tiefsten Inneren hatte Gillian immer geglaubt, dass nach Hause zurückzukehren wie ein Versuch war, die Vergangenheit zu ändern: Es war eine ungeheure Verschwendung an Zeit, Energie und Gefühlen.
Gillian schaute von einem Mann zum anderen. »Ich habe keine Wahl, oder?«
Es war Thaddäus Martin, der antwortete. »Sie haben keine Wahl, Ms. Charles, es sei denn …«
Das »es sei denn« blieb in der Luft hängen. »Es sei denn« lehnte sie ab. Es sei denn, sie wäre entschlossen, gegen die Wünsche ihres Großvaters vorzugehen. Es sei denn, sie wäre bereit, alles aufzugeben.
Alles, einschließlich des einzigen Zuhauses, das sie je gekannt hatte seit jenem schicksalhaften Sommer, als sie elf Jahre alt geworden war, jenem Sommer, als sie zu ihren Großeltern in deren New Yorker Sandsteinhaus gezogen war. Die vierstöckige Residenz befand sich seit Generationen im Familienbesitz der Charlesens. In jedem einzelnen Zimmer hingen museumsreife Gemälde. Sie waren möbliert mit Erbstücken und wertvollen Antiquitäten. Der dazugehörige Garten war einer der größten und meistfotografierten Gärten der Stadt.
Aber selbst wenn ihr Erbe oder ihr Zuhause nicht auf dem Spiel gestanden hätte, hätte Gillian sich den Wünschen von Jacob Armand Charles gebeugt, weil sie ihn geradezu abgöttisch geliebt und verehrt hatte. Es bedurfte nur einer einfachen Bitte, und sie hätte alles für ihn getan.
Sie wusste nicht, welche Beweggründe ihn dazu veranlasst hatten, ihr mit einem schriftlichen Ultimatum quasi das Messer auf die Brust zu setzen. Hatte er ihr am Ende misstraut? Oder war ihr Großvater mit seinen fünfundachtzig Jahren womöglich ein wenig senil geworden, ohne dass sie irgendetwas davon bemerkt hätte?
Gillian behielt ihre Zweifel für sich und schob das Foto über den Tisch zurück.
»Behalten Sie es doch«, schlug Thaddäus in gönnerhaftem Ton vor. »Dann wissen Sie zumindest, wie eine Person in dieser Stadt aussieht.«
»Gut.« Sie nahm das Foto und heftete es mit einer Büroklammer an die Akte, die vor ihr auf dem Tisch lag.
»Haben Sie sonst noch irgendwelche Fragen?« Nur eine, und das war eigentlich keine richtige Frage. Sie wollte sich lediglich noch einmal vergewissern. »Ich verstehe das doch richtig – es gibt ein Zeitlimit?«
»Ja, es gibt ein Zeitlimit«, bestätigte ihr der Seniorpartner. »Sie müssen in der ersten Maiwoche an Ihrem Bestimmungsort sein.«
Gillian hörte sich selbst seufzen, als sie sich umwandte und den Blick aus dem Fenster des Bürogebäudes richtete.
Jetzt starrte sie aus dem Fenster der gemieteten Limousine. Durch die getönte Scheibe schien die Landschaft vollständig im Schatten zu liegen. Aber sie wusste, dass es ein strahlender Frühlingstag war. Sie setzte ihre Sonnenbrille ab und drückte auf den Fensterheberknopf. Leise glitt die Scheibe in die Tür.
So ist es besser, dachte sie. Nun sah die Welt so aus, wie sie sein sollte: blauer Himmel, weiße
Weitere Kostenlose Bücher