Küss mich, Sweetheart: Roman (German Edition)
war heiß und schwül und diesig. Kein Lufthauch bewegte sich. Gegen Abend bildete sich Dunst über dem Land, der die scharfen Konturen langsam verschwimmen ließ und die Geräusche mehr und mehr verschluckte.
Welch ein Unterschied zu den klaren Sommernächten, die von einer Kakophonie der unterschiedlichsten Geräusche erfüllt waren: Da war das Zirpen der Grillen, und aus dem Teich, der mit einem grünen Teppich von Seerosen und Algen überzogen war, stieg das Quaken der Frösche empor; da hörte man Hundegebell und Kinderlachen und gelegentlich auch mal die Fehlzündung eines Autos.
Zur Geisterstunde schien die ganze Welt dann plötzlich zu verstummen. Weit weg am Horizont zuckte ein Wetterleuchten über das mitternachtsblaue Himmelszelt.
Der Morgen brach früh an und tauchte den Himmel und die Erde gleichermaßen in ein intensives Rosa. Es war die Zeit des Jahres, von der die Farmer behaupteten, man könnte tatsächlich den Mais wachsen hören, wenn man bei Tagesanbruch mitten in einem Feld stand und genau hinhörte.
Es war Donnerstag und Mittag längst vorbei. Anna Rogozinski saß auf ihrer Veranda vor dem Haus, in einer Hand den Krückstock und in der anderen einen antiken Fächer aus Ebenholz. Sie schaukelte vor und zurück, versuchte sich ein bisschen Kühlung zu verschaffen und gleichzeitig aber auch all ihren Mut zusammenzunehmen, um Jacobs Enkelin die ganze Geschichte zu erzählen.
Jetzt gib deinem Herzen einen Stoß, Anna. Es ist nicht der Zeitpunkt, die Nerven zu verlieren. Du hast schon öfter Angst gehabt, aber du warst niemals feige.
In gewisser Weise wurde es von Mal zu Mal schwerer, Gillian keinen reinen Wein einzuschenken. Denn die junge Frau hatte es sich inzwischen zur Gewohnheit gemacht, mehrmals in der Woche bei ihr vorbeizuschauen. Anfangs hatten sie sich nur höflich unterhalten und über unpersönliche Dinge geredet. Gillian hatte sich nach den alten Zeiten, den Tagen des Zweiten Weltkriegs und nach Jacob erkundigt, und Anna hatte ihre Fragen sehr sorgfältig beantwortet. Im Gegenzug hatte Anna sie diskret, aber interessiert über ihr Leben ausgefragt.
Fast sofort hatten sie ihre gemeinsame Liebe zur klassischen Musik und zum Klavier entdeckt. Das schöne, erlesene Instrument in ihrem Wohnzimmer war das Erste, was Gillian bei ihrem ersten Besuch aufgefallen war. Sie hatte gelacht (in der Tat ein bezauberndes Lachen; in dieser Beziehung hatte Minerva nicht übertrieben) und ihr erzählt, dass sie den gleichen Steinway in ihrem vorderen Zimmer habe.
Gut, in Sams vorderem Zimmer.
Trotz ihres Altersunterschieds war zwischen ihnen beiden langsam eine Art Freundschaft entstanden. Sie mochte Gillian sehr, und Gillian schien sie auch zu mögen. Aber ihre Freundschaft war neu, zerbrechlich und noch nicht erprobt. Vielleicht wäre die Zeit nie reif, sich ihr anzuvertrauen. Vielleicht sollte sie alles einfach auf sich beruhen lassen.
Anna stampfte mit dem Stock auf dem Boden auf. »Verdammt, Jacob, du musst damit gerechnet haben, dass das passieren würde.« Es war einer ihrer seltenen Temperamentsausbrüche – die Zeit, das Alter und ihre Lebenserfahrung hatten sie mittlerweile abgeklärt, hatten die scharfen Ecken und Kanten ihres einst legendären Künstlertemperaments abgeschliffen. »Du hast einfach alles auf mich abgewälzt, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.«
Es hatte eine Zeit gegeben, da war sie sich ihrer selbst so sicher gewesen. Sie hatte auf alles eine Antwort gehabt. Sie hatte genau gewusst, was sie wollte und wie sie es bekam. Aber es war damals in den Vierzigerjahren auch eine völlig andere Welt gewesen. Die Entscheidungen waren entweder schwarz oder weiß, ohne all diese unendlich vielen Grauschattierungen dazwischen. Eine Sache war richtig oder falsch.
Dann, am 7. Dezember 1941, war der Krieg über sie hereingebrochen. Jeder Einzelne ihrer Generation erinnerte sich daran, wo er sich damals gerade aufhielt, als er zum ersten Mal die Meldung von Pearl Harbor hörte. Plötzlich waren alle Träume und Pläne nur noch Makulatur, und aus ihr war eine ganz andere junge Frau geworden, die sich in ihrer Leidenschaft und dem Drama der Zeiten verheddert hatte.
Vor dem schrecklichen Hintergrund eines Weltkriegs – ständig im Ungewissen darüber, wer leben und wer sterben würde – waren sie und Jacob überzeugt, dass ihre Entscheidung das Beste für alle Beteiligten war. Heute war sie sich nicht mehr so sicher. Heute hatte sie so viel mehr zu verlieren.
Aber
Weitere Kostenlose Bücher